Für die Medienberichterstattung nimmt der Einsatz von Bildern einen bedeutenden Stellenwert ein. Sie werden als Beweis ebenso verwendet wie zur Provokation und können zudem auch manipulativ eingesetzt werden. Bildliche Darstellungen besitzen ein hohes Wirkungspotenzial, da die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit der Sprachentwicklung vorausgeht. Sofern die Aufmerksamkeit für ein Bild erlangt worden ist, werden bekannte Muster wahrgenommen und interpretiert, die dann in den individuellen Erfahrungshorizont des Betrachters überführt werden. Der Fokus richtet sich in der Regel stärker auf die emotional ansprechenden visuellen Signale, so dass das gesprochene Wort einen geringeren Stellenwert bei der Wahrnehmung der Informationen erhält. Das Bild genießt (zudem/somit) Priorität bei der Selektion von Reizen. Durch die affektive Wirkung der Visualisierung fällt den Rezipienten die Distanz zu ihnen schwer. Es wird den Zuschauern die Illusion vermittelt, dass sie sich durch die visuelle Präsentation als Augenzeugen selbst ein Bild machen können, quasi persönlich in das Geschehen involviert sind. Bilder sind Momentaufnahmen. Durch sie werden Gegenstände festgehalten und gebannt. Sie fangen einen Augenblick in Zeit und Raum ein, der dann unwiederbringlich verloren ist. Neben der hohen Relevanz von Bildern im Allgemeinen sind visuelle Abbildungen auch aus einer normativen Perspektive höchst bedeutsam. Im Folgenden werden exemplarisch unterschiedliche Schwerpunkte der bildethischen Reflexion vorgestellt. Neben der Bildmanipulation wird der angemessene visuelle Umgang mit den Bildern von Verstorbenen problematisiert. Hier richtet sich der Blick exemplarisch auf die Darstellung verstorbener Geflüchteter, bevor Handlungsempfehlungen für die journalistische Praxis gegeben werden.

    Basisinformationen

    Grundsätzlich wurde der Visualisierung die Aufgabe zugeschrieben, bestimmte Inhalte durch Bilder zu komplettieren und transparent zu machen. Diese Ergänzungsfunktion hat sich inzwischen zu einer Dominierungsfunktion gegenüber den übrigen Informationsquellen (Schrift, Wort) verändert. Münkler (vgl. Münkler 2001: 144–164) fasst weitere zentrale Punkte zusammen: Visuelle Präsentation ist grundsätzlich eingängiger als sprachliche, weil die in ihr enthaltende Interpretation des Geschehens nicht ohne Weiteres widerspruchsfähig ist. Visuelle Kommunikation folgt nicht einer argumentativen, sondern einer assoziativen Logik, in der Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unberechenbarkeit vorherrschen, wodurch die Rationalität demokratischer Entscheidungsprozesse bedroht ist. Bilder erwecken den Eindruck einer unmittelbar, durch keinerlei semiotische Konventionalisierung vermittelten Wirklichkeitswiedergabe; sie verbergen dahinter die Referenz und spiegeln dem Beobachter eine vermeintlich objektive Sicht auf die Wirklichkeit vor.
    Die Rezipienten bauen sich mit der Hilfe visueller Darstellungen einen Erfahrungshorizont auf, der ihnen Orientierung ermöglicht. Bilder werden entschlüsselt, verglichen, interpretiert und eingeordnet. 
    Die Logik der Texte unterscheidet sich von der Logik der Bilder, da die Textlogik argumentativ und die Bildlogik assoziativ verlaufen. Bild und Text sind dennoch nicht zwingend konkurrierende menschliche Ausdrucksformen, da sie sich wechselseitig aufeinander beziehen können und demzufolge für die Erfassung des Gesamtkontextes voneinander abhängig sind (vgl. Müller/Geise 22003; Schicha/Vaih-Bauer 2015: 480–488). Die Verwendung von Bildern nimmt eine Einbettung in einem spezifischen medialen Kontext vor (Darstellungsfunktion). Sie wird als Beweis für Tatsachen genutzt (Belegfunktion) und kann auch für Prozesse der strategischen Aufmerksamkeitsgenerierung für kommerzielle Zwecke (Werbefunktion) verwendet werden (vgl. Ballensiefen 2009). 
    Durch die Aufnahme von Bildeindrücken lässt sich insgesamt eine hohe Aufmerksamkeit generieren. Die Bilder werden ohne große mentale Anstrengungen aufgenommen und besitzen einen hohen Wiedererkennungswert (vgl. Geise 2011). Der Einsatz von Bildtechniken ermöglicht durch Transformationen, Verzerrungen, Vergrößerungen und Verkleinerungen neue Perspektiven. Welten im "Inneren" des Menschen können ebenso dargestellt werden, wie Vorstellungen und Träume.
    Als Ergebnis der bisherigen Forschung lässt sich feststellen, dass das Bild stärkere Emotionen auslöst und nachhaltiger wirkt, als das geschriebene oder gesprochene Wort (vgl. Adler/Schwab 2018: 32–37). Die Aufmerksamkeit richtet sich in der Regel mehr auf die emotional ansprechenderen visuellen Signale, so dass das gesprochene Wort einen geringeren Stellenwert bei der Wahrnehmung der Informationen erhält. Die bildliche Darstellung wirkt zumeist realistisch, authentisch und glaubwürdig. Es gelingt ihr, stärker als der verbalen Codierung, eine emotionale Regung zu erzeugen.

    a. Publikationen zur Bildethik

    Einen bildethischen Bedarf im Rahmen der Medienethik haben Isermann und Knieper bereits im Handbuch Medienethik diagnostiziert (vgl. Isermann/Knieper 2010: 304–317). Die Themenfelder der Bildethik reichen von der Bildmanipulation (vgl. Becker von Sothen 2013) über die Kriegsfotografie (vgl. Becker 2015) bis hin zum Karikaturenstreit (vgl. Debatin 2007). Hierbei wird u.a. auf juristische Aspekte durch das Recht am eigenen Bild verwiesen.  
    Kritisiert wird auch die stereotype und sexistische Darstellung von Frauen in der Werbung und Modefotografie (vgl. Thiele 2015; Magistrat der Universitätsstadt Marburg (Gleichberechtigungsreferat) 2005; Schmerl 1980). Umstritten sind (zudem) dabei die visuellen Provokationen u.a. in Werbekampagnen von Bekleidungsunternehmen wie Benetton und Diesel (vgl. Salvenini 2002; Wenzel/Lippert 2008).
    In der Zeitschrift für Kommunikationsökologie und Medienethik 1/2006 werden Vorträge der Jahrestagung 2006 zur Bildethik der DGPuK-Fachgruppen Kommunikations- und Medienethik sowie Visuelle Kommunikation dokumentiert. Hier finden sich Aufsätze u.a. zur audiovisuellen Argumentation in der Werbung (vgl. Schwender 2006: 37–44), zur visuellen Darstellung des Todes in den Medien (vgl. Stapf 2010: 391–405) und zur Kriegsfotografie (vgl. Hägele 2006: 74–78).
    Leifert beschäftigt sich in seiner Dissertation mit dem Titel "Bildethik" mit bildtheoretischen Diskursen zum Thema, ebenso wie mit der Medienselbstkontrolle im Rahmen der Visualisierung am Beispiel des Deutschen Presserates. Er widmet sich dem Spannungsfeld zwischen dem journalistischen Informationsauftrag durch die Fotodokumentation einerseits und der Verletzung von Persönlichkeitsrechten der Verstorbenen und ihren Angehörigen andererseits, sofern die Opfer auf den Bildern zu erkennen sind. Am Beispiel der Bilder der Terroranschläge vom 11. September 2001 problematisiert Leifert die Ästhetik des Schreckens. Zudem reflektiert er die journalistische Praxis der visuellen Darstellung von Menschen, die sich selbst getötet haben (vgl. Leifert 2007). 
    In der Zeitschrift "Communicatio Socialis" 2014 widmen sich mehrere Aufsätze neben anderem der Problematik medialer Bildberichterstattung am Beispiel von Amokläufen (vgl. Verhovnik 2014: 411–430 und dem visuellen Umgang mit Konflikten und Katastrophen (vgl. Godulla 2014: 402–410) 
    Tappe verweist in ihrem Beitrag zur Bildethik im Handbuch Medien- und Informationsethik u.a. auf die Problematik entwürdigender und ehrabschneidender Bilder sowie auf die Gefahr rassistischer Stereotypisierung durch Bilder. Weitere Problembereiche liegen im Spannungsfeld zwischen künstlerischer Bildgestaltung und betrügerischer Bildbearbeitung (vgl. Tappe 2016: 306–312). 
    In der von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen herausgegebenen Fachzeitschrift tv diskurs 1/2018 finden sich zum Schwerpunkt "Mächtige Bilder, ohnmächtige Ethik" Aufsätze zur philosophischen Ethik des Bildes (vgl. Pollmann 2018: 20–25), zur Darstellung verstorbener Geflüchteter (vgl. Schicha 2018: 227–242) und zur Professionsethik im Fotojournalismus (vgl. Koltermann 2018: 20–25).
     

    b. Bildmanipulation

    Das Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Fotografie hat eine lange Tradition. Neben dieser Fundamentalkritik an der Bilderflut im Allgemeinen steht auch die Bildmanipulation im Besonderen im Zentrum der Kritik.  
    Unter einer Manipulation wird eine Form der Beeinflussung verstanden, die für die Rezipienten nicht durchschaubar ist. Die Manipulation von Bildmaterial bedeutet die mit einer Täuschungsabsicht verbundene intentionale Veränderung von Informationen durch Auswahl, Zusätze oder Auslassungen (vgl. Metten/Liebert 2007). 
    Das Spektrum und die Motive der Bildmanipulation sind vielfältig. So haben totalitäre Machthaber politische Gegner aus Bildern entfernen lassen (vgl. Jaubert 1989). Protestplakate bei politischen Versammlungen werden wegretuschiert (vgl. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1998). Im Bereich der Werbung und der Modefotografie werden die abgebildeten Fotomodelle durch Programme wie Photoshop so bearbeitet, dass Falten, Narben und Muttermale nicht mehr zu sehen sind.  
    Aus einer journalistischen Perspektive lassen sich kommerzielle Interessen, persönliche Profilierung, die Erfüllung von (scheinbaren) Rezeptionsbedürfnissen sowie die mangelnde oder oberflächliche Recherche aus Aktualitätsdruck benennen, die dazu führen können, Bilder zu manipulieren. Dabei gibt es einige Techniken, die diese Manipulation ermöglichen. Folgende sind beispielhaft zu nennen: 

    • Löschen bzw. Einfügen von Bildelementen,
    • die strategische Wahl der Perspektive des Aufnahmestandpunktes,
    • "Optimierung" durch Helligkeit, Schärfe, Kontrast,
    • Fotoverwendung aus anderen Kontexten,
    • falsche Beschriftung,
    • Ästhetisierung,
    • Fotokombinationen,
    • Fotomontage,
    • gestellte Aufnahmen,
    • Retusche,
    • digitale Bearbeitung (vgl. Schicha 2005: 9–15; Schicha 2007: 155–182).

     

    Zudem sind Kombinationen dieser Formen möglich. Fotos werden schließlich ebenso wie Texte redigiert. Häufig sind Bildmanipulationen nur durch eine Gegenüberstellung von Original und Kopie erkennbar. Dabei gilt: Bildmotive werden durch Informanten, Rechercheure, Reporter, Fotografen, Journalisten, Agenturen, Cutter, Redakteure sowie Verleger ausgewählt und ggf. bearbeitet. Diese bringen ihre Interessen und Sichtweisen ein und können dadurch ein Bild sukzessiv in der Form verändern, sodass der Betrachter manipuliert wird. 
    Das Verfahren der digitalen Bildbearbeitung kommt auch bei bewegten Bilden zum Einsatz. In dem Spielfilm "Forrest Gump" aus dem Jahr 1994, wo der Schauspieler Tom Hanks in seiner Rolle dem in der Realität längst verstorbenen Präsidenten John F. Kennedy mit Hilfe eines Blue-Box-Verfahrens die Hand schüttelt, zeigt, welche Möglichkeiten der Bildmanipulation sich auch für Filme bieten (vgl. Hoberg 1999; Deussen 2007). Inzwischen ist es technisch mit einem digitalen Verfahren auch kein Problem mehr, Mundbewegungen in andere Gesichter zu transportieren. So hat ein Team von Stamminger (vgl. Stamminger 2016) ein Verfahren entwickelt, bei dem die Lippenbewegungen von anderen in das Gesicht von Spitzenpolitikern transportiert werden. Hierdurch können Äußerungen dargestellt werden, die tatsächlich zu keinem Zeitpunkt von Barack Obama, Donald Trump oder Vladimir Putin artikuliert worden sind. Mit Hilfe einer stimmlichen Manipulation, die dem Original des Politikers ähnelt, ist die Täuschung perfekt. 
    Aus einer medienethischen Perspektive sind nicht alle Formen der Bildmanipulation a priori abzulehnen. Die Kunst arbeitet ebenfalls mit kreativen Formen der Bildbearbeitung. Fotomontagen und Karikaturen können durchaus ein aufklärerisches Potenzial besitzen. Der Fotokünstler Matthias Wähner hat sein eigenes Bild in Schlüsselbilder der Geschichte hinein retuschiert. So findet sich z.B. beim Kniefall von Willy Brandt von 1970 in Warschau in der von Wähner bearbeiteten Fassung seine eigene Person, die neben dem ehemaligen Bundeskanzler kniet (vgl. Wähner 1994). Der Künstler Michael Schirner (vgl. Schirner 2010) hat ein entgegengesetztes Konzept umgesetzt. Er hat aus den Originalaufnahmen Elemente herausgenommen, die zuvor im Foto abgebildet worden sind. So ist etwa beim Kniefall von Warschau der Körper von Willy Brand wegretuschiert worden. Da dieses Schlüsselbild jedoch im kollektiven Gedächtnis erhalten ist, können zahlreiche Betrachter den realen Sinnzusammenhang selbst dann rekonstruieren, wenn der zentrale Akteur nicht zu sehen ist.
     

    c. Zur visuellen Darstellung von Verstorbenen

    Die visuelle Darstellung des Todes in den Medien gehört zu den moralisch problematischsten Techniken journalistischer Tätigkeit. Es werden Schockbilder produziert, die im kollektiven Gedächtnis erhalten bleiben (vgl. Mayer 2014: 431–437). Der Mord an dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy wurde im Fernsehen ebenso gezeigt wie die Hinrichtung eines Vietkongs nach dessen Verhaftung durch den südvietnamesischen Polizeichef Nguyen Ngoc Loan. Umstritten war auch die Veröffentlichung eines Fotos des verstorbenen Politikers Uwe Barschel in der Badewanne eines Schweizer Hotels. Zudem sind Bilder des verstorbenen Adolf Hitlers publiziert worden. Besonders problematisch sind Darstellungen aus propagandistischen Motiven veröffentlichten Hinrichtungsszenen wie die von der Enthauptung von Menschen durch Terroristen des Islamischen Staates, die im Internet publiziert worden sind (vgl. Haller 2008; Girardin/Pirker 2008). Die Veröffentlichung von Bildern verstorbener Prominenter hat in den letzten Jahren immer wieder zu kontroversen Debatten geführt. Dabei reicht das Spektrum der Bilder von Verkehrstoten wie Lady Diana über Hinrichtungsszenen wie bei Saddam Hussein bis hin zu aufgebahrten Persönlichkeiten wie Papst Johannes Paul II (vgl. Gerhardt/Steffen/Tillmanns 2015). 
    Umstritten sind auch die gezeigten Bilder von Opfern, die bei Terroranschlägen, Folterungen, Amokläufen, in Kriegen oder bei Umweltkatastrophen ums Leben gekommen sind (vgl. Verhovnik 2014: 411–430). Es ist stets nach den Umständen zu fragen, die derartige Veröffentlichungen ggf. rechtfertigen. Schließlich ist die Verletzung der Menschenwürde auch über den Tod hinaus möglich. Postmortale Ehrverletzungen und Entwürdigungen sind dabei relevant (vgl. Stapf 2010: 391–405). Zudem sind die möglichen negativen Folgen zu antizipieren, die für die Betrachter derartiger Bilder entstehen können. Gleichwohl haben Journalistinnen und Journalisten die Aufgabe, Missstände aufzuzeigen und zu dokumentieren, um dadurch Aufklärung zu leisten. Insofern muss es gute Gründe geben, Bilder zu verbieten, da die Pressefreiheit und das Zensurverbot zu Recht ein wichtiges Gut in Demokratien vom Typ der Bundesrepublik Deutschland darstellen.
     

    d. Zur Debatte um die Veröffentlichung des Bildes des verstorbenen Aylan Kurdi

    Seit vielen Jahren machen sich Menschen in Not auf den Weg nach Europa; meist aufgrund katastrophaler Bedingungen in ihren Heimatländern. Sie flüchten über das Mittelmeer in z. T. völlig überladenen und seeuntauglichen Booten. Dabei sind zahlreiche Menschen ums Leben gekommen, die jedoch anonym geblieben sind, da ihre Bilder und Namen bislang nicht publiziert worden sind. Inzwischen wird aber auch ihr Tod als grausame Konsequenz einer gefährlichen Flucht in Bildern dokumentiert und diskutiert.  
    Das Foto des dreijährigen syrischen Jungen Aylan Kurdi, der im September 2015 auf der Flucht ertrunken ist und dessen Leiche am Strand von Bodrum angespült wurde, hat die Welt erschüttert, da es über eine enorme emotionale Wirkung verfügt. Dabei avancierte das Bild des leblosen Körpers, der mit blauer Jeans und rotem T-Shirt tot am Strand lag, zu einem Symbol von Katastrophen, die Menschen auf der Flucht widerfahren sind. Das Foto wurde ein Symbolbild für die Flüchtlingskrise und hat sich via Twitter unter #Kiyiya VuranInsanlik ("Die fortgespülte Menschlichkeit") rasant verbreitet. Es besitzt eine emotionale Identifikations- und Wirkungskraft und erzeugte öffentliche Anschlussdiskurse über das moralisch angemessene Verhalten gegenüber Geflüchteten in Not. Das Bild gehört eindeutig zu denjenigen, "die ins Herz treffen" (vgl. Herbst 2012), wenn verstanden wird, dass der leblose Körper des Kindes einen erfolglosen Fluchtversuch mit tödlichem Ausgang dokumentiert. Dieses Foto war am 2. September 2015 der weltweit am häufigsten verwendete Hashtag bei Twitter und löste eine Welle der Empathie aus. Die BILD-Zeitung räumte die gesamte letzte Seite für das Foto des Jungen frei. In dem Boulevardblatt werden in der Regel leicht bekleidete Stars und Sternchen mit dem Zweck der oberflächlichen Unterhaltung gezeigt. Beim abgedruckten Text zum Bild von Aylan Kurdi in der BILD war auf schwarzem Untergrund zu lesen: "Bilder wie dieses sind schändlich alltäglich geworden. Wir ertragen sie nicht mehr, aber wir wollen, wir müssen sie zeigen, denn sie dokumentieren das historische Versagen unserer Zivilisation in dieser Flüchtlingskrise" (Becker 2015). Julian Reichelt  (damaliger Bild-Online-Chefredakteur) begründete für die BILD-Zeitung die Entscheidung zur Veröffentlichung damit, dass derartige Bilder veröffentlicht werden müssen, da sie "die menschliche Dimension politischer Entscheidungen dokumentieren" (Schade 2015).
    Bei der Publikation des Bildes vom verstorbenen Aylan wurden z.T. auch Verfremdungselemente vorgenommen, um eine Wiedererkennung des Jungen zu vermeiden. Sein Gesicht wurde bei einigen Veröffentlichungen durch Pixel oder Unschärfe unkenntlich gemacht. Auf anderen Fotos ist es nicht zu erkennen, da eine Rückensicht abgebildet wurde und das Gesicht abgewandt ist. Das Kind kann demzufolge nicht eindeutig identifiziert werden (vgl. Kamann/Posener 2015: 3). Der Kölner Stadtanzeiger hat sich dazu entschlossen, den Körper des Jungen aus dem Foto am Strand herauszuschneiden, wodurch nur noch die weißen Konturen des Kindes zu erkennen sind. Insofern ist die Bildbearbeitung hier genutzt worden, um das Opfer zu schützen.
    Der deutsche Presserat erhielt 19 Beschwerden gegen diverse Zeitungen, die das Foto unbearbeitet zeigten. Diese wurden in seiner Spruchpraxis als unbegründet beurteilt, da es – so das Urteil der Medienselbstkontrollinstanz – keine unangemessene sensationelle und entwürdigende Darstellung des Verstorbenen gegeben habe. Der tote Flüchtlingsjunge am Strand sei ein Dokument der Zeitgeschichte, und das Foto stehe symbolisch für das Leid und die Gefahren, denen sich Flüchtlinge aussetzen. Die Dokumentation der schrecklichen Folgen von Kriegen sowie die der Gefahren des Schlepperwesens und die der Überfahrt nach Europa begründe ein öffentliches Interesse. Da das Gesicht des Kindes nicht zu erkennen sei, würden seine Persönlichkeitsrechte nach Auffassung der Medienselbstkontrollinstanz nicht verletzt (vgl. Deutscher Presserat 2015).

    Bilder besitzen als visuelle Informationsträger von Sachverhalten ein hohes Wirkungspotenzial. Ihre suggestive Kraft kann dazu führen, dass eine kritische Distanz gegenüber den angebotenen Motiven verloren geht. Das gilt vor allem dann, wenn den Rezipienten die Kompetenz fehlt, die visuelle Logik von Bildbearbeitungen zu entschlüsseln und dadurch die inszenierende und manipulierende Wirkungskraft als solche nicht erkannt wird. Bilder, die von Journalisten gemacht worden sind, sollten zuverlässig sein. Es ist hilfreich, wenn die Entstehungsbedingungen der Dokumente transparent gemacht und die Quellen überprüfbar benannt werden. Nur so kann die Medienarbeit im Rahmen der Berichterstattung effektiv und glaubwürdig agieren.
    Neben Kenntnissen zur Entschlüsselung von visuellen Montagen sollten in diesem Kontext v.a. die Strategien der Veränderung von Bildern genauer analysiert werden, um deren manipulative Wirkungskraft aufzuzeigen. 

    Neben den skizzierten Risiken sollte jedoch nicht das enorme Wirkungspotenzial von Bildern vernachlässigt werden, das durchaus didaktisch vermittelnde Optionen aufweisen kann. Eine Reihe von Hintergrundinformationen können durch eine visuelle Unterstützung gegeben werden. Innerhalb der natürlichen und medialen Lebenswelt werden Menschen permanent akustischen und visuellen Reizen ausgesetzt, die verarbeitet werden müssen. Die Rezeptionsgewohnheiten haben sich von einer schriftgeprägten Kultur zunehmend auf die visuelle Ebene hin verlagert. Es geht also um eine Kompetenz zur Dekodierung der Bilder, die nur in einem ständigen Reflexionsprozess und im Rahmen von Einzelfallanalysen bewerkstelligt werden kann. 

    Grundsätzlich haben Medien die Aufgabe, ihrer Chronistenpflicht nachzukommen, indem sie Öffentlichkeit herstellen und über relevante Ereignisse berichten. Dazu gehören auch visuelle Dokumente der Zeitgeschichte, die Missstände aufzeigen. Dies lässt sich ggf. dann legitimieren, wenn keine Identifikation der Opfer möglich ist. So können bspw. Gesichter gar nicht oder nur verpixelt gezeigt werden. Da derartige Schockbilder in der Regel ohnehin im Internet zu finden sind, kann für eine Veröffentlichung dahingehend argumentiert werden, dass eine Ausblendung solch visueller Darstellungen als Zensur wahrgenommen werden kann (könnte). Schließlich – so die Hoffnung – kann die visuelle Veröffentlichung der grausamen Konsequenzen einer unmenschlichen Flüchtlingspolitik dazu beitragen, politisches Handeln zu verändern. Derartige Schlüsselbilder können Symbolkraft gewinnen und dabei helfen, das Wegsehen zu vermeiden und die menschlichen Tragödien nicht auszublenden. Gegen die Veröffentlichung von Bildern verstorbener Geflüchteter spricht, dass die Menschenwürde der Toten berührt wird. Zudem leiden ggf. auch die Angehörigen der Opfer unter der visuellen Darstellung. Es ist aus der Perspektive des Jugendschutzes nicht abzusehen, ob derartige Schockbilder von Heranwachsenden angemessen verarbeitet werden können. Die visuelle Instrumentalisierung von Leid ist nicht zwingend erforderlich, um die tragischen Konsequenzen falschen politischen Handelns zu erklären. Dies ist auch in anderer Form durch sprachliche Aufklärung möglich. Schließlich besteht die Problematik, dass eine drastische Darstellung des Leidens weniger der Aufklärung als vielmehr dem Voyeurismus und der Geschäftemacherei dient.
     

    Mögliche Fragen/Thesen zur Diskussion

    • Bilder können dem Betrachter nur eine vermeintlich objektive Wirklichkeit vorspielen.
    • Bilder in Form von Fotografien sind Momentaufnahmen zeitgeschichtlicher Ereignisse. Bei einer Verwendung im öffentlichen Bereich, gerade in der Journalistik, dürfen die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Personen nicht verletzt werden.
       

    Adler, D. und Schwab, F.: Fernsehen: durch die Augen direkt in den Bauch. Wie Medienbilder Emotionen erzeugen, in: tv diskurs 83 (2018), 32–37.
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    Becker von Sothen, H.: Bild-Legenden: Fotos machen Politik. Fälschungen – Fakes – Manipulationen, Graz 2013.
    Becker, A.: Das traurigste Foto der Welt: #Kiyiya wird zum Symbolbild der Flüchtlingskrise, http://meedia.de/2015/09/03/das-traurigste-foto-der-welt-kiyiya-wird-zum-symbolbild-der-fluechtlingskrise [zuletzt aufgerufen am 01.03.2018].
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    Veröffentlicht am 12.10.2017 (Version 1.0).

    Zitierweise:
    Schicha, C.: Art. "Bildethik" (Version 1.0 vom 12.10.2017), in: Ethik-Lexikon, verfügbar unter: https://ethik-lexikon.de/lexikon/bildethik.