Was ist Familie? Wer gehört zur Familie? Was unterscheidet die Familie von anderen Formen des Zusammenlebens? Gibt es genuine Pflichten und Güter, die aus familialen Konstellationen hervorgehen? Welche Erwartungen werden an Familienformen herangetragen? Wie verhalten sich Abstammung und soziale Rollen zueinander?

    Basisinformationen

    Die Familie als Lebensgemeinschaft ist eine sich im Wandel befindende und anpassungsfähige Sozialform. Allerdings wurde sie immer wieder idealisiert und die gelebte Vielfältigkeit wissenschaftlich nicht abgebildet. Zum einen wurde Familie lange Zeit als gegeben vorausgesetzt und zum anderen, nicht zuletzt aufgrund von klassischen Geschlechterrollen, auf die Reproduktion hin funktionalisiert.

    Dabei lässt sich feststellen, dass die Sozialform der Familie schon immer über die rein biologische Abstammung hinaus auf sozialen Beziehungsgeflechten gefußt hat. Durch voranschreitende Reproduktionstechniken greift die Blutsverwandtschaft nicht mehr als bestimmendes Moment – und hat es wohl auch noch nie (vgl. v. Braun 2018). Historisch lässt sich von keinem einheitlichen konstanten Familienbegriff ausgehen. Die sich wandelnden Vorstellungen von Familie lassen sich auf verschiedene Einwirkungen und Entwicklungen zurückführen. Sie spiegeln zum einen unterschiedliche Vorstellungen von Elternschaft, Generativität sowie Geschlechterordnungen wider und stehen zum anderen in engem Zusammenhang mit den sozioökonomischen Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft. Gegenwärtig werden unter dem Oberbegriff „Familie“ aus theologischer Perspektive unterschiedliche Themenkreise diskutiert: Single im Pfarrhaus, gleichgeschlechtliche Ehe, Scheidung, Kinderlosigkeit, Familiengründung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und weitere. Lange Zeit wurde sich der Familie aus protestantisch-ethischer Sicht lediglich implizit im Rahmen von Reflexionen zur Ehe zugewandt. Erst seit Kurzem ist eine eigenständige Er- und Bearbeitung eines Familienbegriffs für die protestantische Theologie zu beobachten. Entgegen dem über lange Zeit herrschenden stillschweigenden Konsens, Familie an Konzepten von Ehe und Partnerschaft zu messen, sind praxeologisch argumentierende Modelle von Familie hilfreich zur Reflexion der Familie als eigenständiges Forschungsfeld, die insbesondere feministische sowie care-ethische Perspektiven aufgreifen und Familie beispielsweise im Kontext von Sozial- und Arbeitsstrukturen bedenken.

    a. Rechtliche Positionen

    Aus rechtlicher Perspektive bilden die Grundrechte aus Art. 6 GG das Zentrum, wenn es um den Bereich der Familie geht. In Absatz 1 wird die Familie unter „besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ gestellt. Diese Sonderstellung geht aus der exzeptionellen Bedeutung der Familie für das in ihr lebende und sich entwickelnde Individuum hervor (vgl. Kotzur/Vasel 22016). In Absatz 2 wird die Eltern-Kind-Beziehung in den Blick genommen. Es ist in besonderem Maße diese Beziehung, die durch neue Lebensentwürfe das Recht vor Herausforderungen stellt. Durch den Umstand, dass die Ausgestaltung des familialen Zusammenlebens durch Art. 6 GG „dem einfachen Gesetzgeber im Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)“ (Beißel 2021: 18) überlassen wird, ergibt sich eine gewisse Offenheit und Anpassungsfähigkeit an neue Lebensformen. In der aktuellen Debatte werden u. a. Fragen hinsichtlich einer Mehrelternschaft diskutiert, d. h. einer solchen Elternschaft, die aus einer Gleichzeitigkeit genetischer und sozialer Elternschaft besteht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Begriff der Familie eine juristische Unschärfe aufweist – ganz im Gegensatz zum durch das Recht festgesetzten Begriff der Ehe.

     

    b. Biblische Grundlagen(texte)

    Die Gesellschaft zur biblischen Zeit war patriarchal verfasst. Das Zusammenleben wurde durch die Zusammenarbeit der Lebensgemeinschaft bestimmt. Mit der Heirat verließ eine Frau ihre Herkunftsfamilie und schloss sich der Familie ihres Ehemannes an (Gen 7,7; Gen 36,6). Als unerlässlich wurde die Ehrung der älteren Mitglieder der Familie angesehen. Das Ehr-Gebot im Dekalog (Ex 20,12; Dtn 5,16) ist nicht nur auf das Verhalten von jungen Kindern, sondern auch auf das von Erwachsenen ihren Eltern gegenüber bezogen (vgl. Surall 2015: 480). Ein eindrücklicher Beleg für die Zuwendung Jesu zu den Kindern stellt die Kindersegnung dar, die sich bei allen Synoptikern findet (Mk 10,13-16; Mt 19,13-15; Lk 18, 15-17). Die Familie spielt im Zusammenhang der Nachfolge Jesu eine Rolle. Immer wieder wird die Nachfolge unter die Bedingung des Zurücklassens der familiären Verhältnisse gestellt (bspw. Mt 19,29; Lk 9,61). Das Verhältnis von Familie und Glaube findet Reflexion in der paulinischen Briefliteratur. Der Glaube macht die Menschen zu Gottes Kindern (Gal 3,7) und sie somit gleich in Christus (Gal 3,28). Als besonders aufschlussreich gelten die neutestamentlichen Haustafeln (Eph 5,21-6,9; Kol 3,18-4,1). In ihnen wird die häusliche Sozialordnung expliziert. Von Kindern und Sklaven wird Gehorsam, von Eltern und Herren Maß eingefordert.

     

    c. Ethische Debatte

    i. Die Frage nach der Begründung filialer Pflichten

    In der aktuellen sozialphilosophischen Debatte lässt sich ein Schwerpunkt in der Frage nach der Begründung filialer Pflichten (Pflichten, die Kinder ihren Eltern aufgrund der Eltern-Kind-Beziehung schulden) ausmachen. In diesem Diskurs kommt der Eltern-Kind-Beziehung eine herausgehobene Stellung zu. Es wird, ausgehend von der Einsicht der Besonderheit dieser Beziehung, nach möglichen Pflichten gefragt, die erwachsene Kinder ihren Eltern gegenüber haben und vice versa. So votiert Simon Keller – in Ablehnung einer Schuld-, Dankbarkeits- und Freundschaftstheorie – dafür, dass Kinder dazu verpflichtet seien, ihren Eltern aufgrund der besonderen Beziehung und den daraus hervorgehenden „speziellen Gütern“ eben diese nicht vorzuenthalten (Keller 2015: 246). Mit seinem Ansatz versucht er zu zeigen, „dass filiale Pflichten charakteristische und ungewöhnliche Pflichten sind“ (ebd.), die sich aus der exzeptionellen Beziehung ableiten lassen. Geht Keller von dem grundsätzlichen Phänomen filialer Pflichten aus, so stellt Barbara Bleisch in ihren Arbeiten dieses infrage. Sie rückt das Moment der Vulnerabilität ins Zentrum ihrer Überlegungen. Eine grundsätzliche Verpflichtung erwachsener Kinder ihren Eltern gegenüber lehnt sie ab. So lasse sich auch nicht pauschal von ‚Rabenkindern‘ sprechen. Dieser Umstand führt in ihrem Ansatz aber keineswegs dazu, dass jeglicher ethischen Wertung eines Verhaltens innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung eine Absage erteilt wird und es ergo keine ‚Rabenkinder‘ geben könne. Als ‚Rabenkinder‘ sind nach Bleisch diejenigen Kinder zu bezeichnen, die die spezielle Vulnerabilität der Akteur*innen der Beziehung negieren respektive unbeachtet lassen und die Verletzlichkeit der anderen Person nicht in ihre Handlungsentscheidung miteinbeziehen (vgl. Bleisch 2015: 268). Kinder schulden ihren Eltern per se nichts, allerdings sind sie der Eltern-Kind-Beziehung an sich verpflichtet und sollten die grundsätzliche Vulnerabilität des Gegenübers in ihre Handlungsentscheidung miteinbeziehen.

    ii. Doing und Undoing Family

    Mit dem soziologischen Konzept des Doing Family, angelehnt an Doing Gender, wird darauf aufmerksam gemacht, dass Familie zunächst hergestellt werden muss und nicht einfach gegeben ist. Ein normativer Familienbegriff wird somit negiert. Mit dem praxeologischen Ansatz wird nach den Herstellungsleistungen gefragt, die innerhalb einer Familie erbracht werden. Leitend ist dabei die Care-Perspektive. Es geht um solche Praxen, die den Kern familialen Zusammenlebens umfassen, die „Sorge“ (care) füreinander. Diese neue Perspektive auf Familie deckt neben den Herstellungsleistungen der Familie an sich auch solche alltäglichen Leistungen auf, die für die Gesellschaft relevant, wenn auch nicht primär für diese intendiert sind, wie bspw. Bildung, Care-Leistungen in der Erziehung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen. Darüber hinaus akzentuiert Doing Family einen Begriff von Familie, der über die vermeintlich klassische Kernfamilie hinausreicht. So lässt sich Familie als „multilokale[s] Netzwerk“ (Jurczyk/Lange/Thiessen 2014: 10) denken.

    Das Konzept des Doing Family konzentriert sich weder einseitig auf die Frage der Zugehörigkeit noch ausnahmslos auf das Handeln der Akteur*innen. Vielmehr geht das Modell von einer Verschränkung von Struktur und Inhalt aus. Vertreter*innen sehen die Stärke des Ansatzes im heuristischen Potential. Familie lässt sich als permeables Konstrukt im Zusammenspiel mit gesellschaftlichem Wandel, den komplexen Beziehungsstrukturen und der zunehmenden Komplexität des Alltags denken. Diese gesellschaftlichen Imperative, die an die Familie herangetragen werden, sind dem Ansatz nach nur praxeologisch zu fassen. Wie Jurczyk zusammenfasst, lässt sich das Doing von Familie praxeologisch auf zwei Ebenen beschreiben: Das wären „Balancemanagement“, d. h. die organisatorische Aufgabe der Familiengestaltung, sowie die „Konstruktion von Gemeinschaft“, d. h. „die identitätsorientierte Konstruktion von Familie als zusammengehörige Gruppe“ (Jurczyk 2020: 30). Letztere umfasst zwei Dimensionen, eine Binnen- und eine Außenperspektive. So lässt sich unter der Konstruktionsleistung zum einen die Herstellung eines Wir-Gefühls unter der Frage nach Inklusion und Exklusion fassen, zum anderen aber auch das Moment des „Displaying Family“, d. h. der Darstellung des familialen Zusammenlebens nach außen (vgl. Jurczyk 2020: 30). In jüngster Zeit wurde das Konzept durch den Begriff des Undoing Family ergänzt. Unter Undoing Family werden solche Momente menschlichen Zusammenlebens in den Fokus gerückt, in denen man bei den Akteur*innen eine gewisse Familienvergessenheit diagnostiziert respektive eine bewusste Distanzierung zu familialen Lebenszusammenhängen (vgl. Jurczyk 2020: 34). Dabei ist eine klare Grenzziehung zwischen Doing und Undoing schwer möglich. Vielmehr ist es sinnvoll, von Grenzgebieten zu sprechen, da bspw. auch zerstörerisches Handeln (Gewalt und Zwang) intentional auf den Erhalt, also das Doing von Familie abhebt. Außerhalb dieses fluiden Gefüges von Doing und Undoing steht das Not Doing Family. Unter diesem Begriff sammeln sich all jene Handlungen, bei denen die Familie als Referenzgröße nicht existent ist. Akteur*innen negieren in ihren Handlungen jedwede Verbindung zum Bezugssystem Familie (vgl. Jurczyk 2020: 36). Durch den Ansatz des Doing Family lässt sich festhalten, dass „Familie keine gegebene Größe, sondern menschliche Praxis [ist]“ (Plonz 2018: 175).

    iii. Familie in sozialphilosophischen Ansätzen

    Zu den innerhalb der letzten Jahre auch interdisziplinär breit diskutierten Theoriemodellen der Sozialwissenschaft und -philosophie gehören die Ausarbeitungen der Sozialphilosophin Rahel Jaeggi sowie des Soziologen Hartmut Rosa. In ihrem Werk Kritik von Lebensformen bedient sich Jaeggi im Rahmen ihrer Elaboration eines Lebensformbegriffs des Hegel’schen Familienbegriffs und führt den Begriff der Familie wiederholt als ein Beispiel für eine gelebte Lebensform an. Dabei erkennt sie in der Familie nicht nur eine sittliche Institution, sondern auch eine Strategie zur Problemlösung, die, je nach familialer Struktur, auf verschiedene Lebensherausforderungen indirekt antwortet (vgl. Jaeggi 2014). Hartmut Rosa befasst sich mit der Familie innerhalb seiner Resonanztheorie unter der prägnanten Überschrift „Die Familie als Resonanzhafen in stürmischer See“ (vgl. Rosa 2016: 341). Er skizziert die Familie als potentiellen Gegenpart zur – vom Wettbewerb bestimmten – Alltagswelt. Er hebt die Alleinstellung der Familie als einzigartigen Resonanzort hervor, an den man sich immer wieder zurückziehen und wirkliche Resonanz erfahren könne. Auch in neueren Theorien personaler wie sozialer Anerkennung wird die Familie thematisiert. Axel Honneth zeichnet die Familie, neben Freundschaft und Intimbeziehungen, als die grundlegende Anerkennungsform einer demokratischen Gesellschaft, die ihrerseits auf einem sozialen Begriff von Freiheit fußt, indem die Ausbildung wechselhafter Anerkennungsverhältnisse zur Grundlage menschlicher Sozialität wird (vgl. Honneth 2015).

     

    d. Evangelische Positionierung

    (Folgende Ausführungen gehen zurück auf: König/Kreft 2021: 7-13)

    Trutz Rendtorff operiert 1991 in seiner Ethik noch mit einem Familienbegriff, der nur auf die klassisch-heterosexuelle Familiengemeinschaft und auf die Weitergabe des Lebens ausgerichtet ist. Damit wird der Familienbegriff unter die „Lebensform der Ehe“ (Rendtorff 32011: 255) gestellt. Entsprechend werden andere Formen familialer Beziehung an dieser gemessen. Dieser Befund unterstreicht, dass erst seit Kurzem die Familie als eigenständige Lebensform in den Blick evangelischer Theologie gerät. Mittlerweile finden sich unterschiedliche Ansätze, die den Familienbegriff in seiner Pluralität wahrnehmen und im Einzelnen konkrete Themen diskutieren. Dies gilt nicht nur für die Disziplinen der Systematischen und Praktischen Theologie, sondern lässt sich auch für die religionsgeschichtliche sowie exegetische Forschung feststellen.

    Allerdings wird die grundlegende Frage, was Familie ist bzw. sein könnte, in diesem Kontext nur selten gestellt. Die Fraglichkeit des Familienbegriffs als eigenständiges Forschungsobjekt zu behandeln, lässt sich noch nicht als Teil einer breiten theologischen Debatte ausmachen, wenngleich neuere Publikationen wichtige Perspektiven aufgreifen (vgl. bspw. Lieske 2019; Bayerl 2006; König/Kreft 2021). Dieser Umstand ist auch für die katholisch-theologische Diskussion zu konstatieren. Seit jüngster Vergangenheit finden durch neuere Ansätze der „Queer-Theology“ (vgl. bspw. Wirth 2021) auch die Themen Intersexualität und Transidentität Eingang in familienethische Diskurse. Zusammenfassend lässt sich mehrheitlich für die theologische Auseinandersetzung mit dem Thema Familie nach wie vor konstatieren: „Familie wird in Analogie zur Liebe von Ehe und Partnerschaft gedacht, nicht umgekehrt.“ (Dabrock/Anselm 2014: 104).

    Eine intensive Diskussion erfuhr hinsichtlich der institutionellen Begründung der Familie ausgehend vom Eheverständnis 2013 das EKD-Papier „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Im Gegensatz zu der Orientierungshilfe „Mit Spannungen Leben“ aus dem Jahre 1996 wird hier die Familie nicht exklusiv aus der ehelichen Beziehung abgeleitet. Damit verabschiedet dieses kirchliche Thesenpapier „das Argument, die Ehe sei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften überlegen, weil nur sie zur Familie werden könne“ (Surall 2015: 493). Neben der vorsichtigen Erweiterung der Ehe auf homosexuelle Gemeinschaften im EKD-Text ist die Aufnahme einer Care-Perspektive positiv zu würdigen, insofern die Orientierungshilfe Familie als intergenerationelle Verantwortungsgemeinschaft definiert. Es ist bezeichnend, dass ebendiese Aspekte die heftigste Kritik von innertheologischer Seite provoziert haben. Die Konfliktlinie verlief zwischen solchen Ansätzen, die Familie formal definieren und denen, die Familie praxeologisch bestimmen.

    So wurde das Papier sowie die anschließende Diskussion in familienwissenschaftlichen wie soziologischen Kontexten vermutlich besonders registriert, weil derartige Stellungnahmen aus der Sicht der Sozialwissenschaften zunächst als Aussagen einer gesellschaftlichen Akteurin (Kirche) wahrgenommen werden, die es dann – unabhängig von der theologischen Begründung – zu rezipieren und kritisieren gilt (vgl. Thiessen 2015).

    Im Allgemeinen lässt sich also weiterhin für das Gros protestantisch-theologischer Arbeiten eine Zurückhaltung attestieren, wenn es um die grundsätzliche Problematisierung respektive Erarbeitung eines Familienbegriffs geht. Demzufolge wird im ethisch-theologischen wie im praktisch-theologischen Diskurs zumeist von einem normativ gefüllten Begriff von Familie ausgegangen. Es wird – im Rückgriff auf biblische (vgl. Richter 2020), reformatorische (vgl. Gräb-Schmidt 2017) oder nachaufklärerisch-bürgerliche (vgl. Rebert 2020) Einsichten – ein protestantisches Familienbild vorausgesetzt und danach gefragt, was Familie ist oder sein darf.

    Dies äußert sich unter anderem in der Betitelung von solchen Lebensformen als vermeintlich „problematisch“ oder „umstritten“ (vgl. bspw. Surall 2015: 489), die aus dem Muster Mann-Frau herausfallen. Ein Grund hierfür könnte sein, dass es in der Theologie bislang nicht zu einer produktiven Rezeption aktueller sozialwissenschaftlicher und -philosophischer Theorien gekommen ist, die sich zum Beispiel mit Begründungsfragen spezifisch parentaler, filialer oder geschwisterlicher Pflichten befassen, Familie als sich selbst bildende Lebensform verstehen oder Familie ganz vom Beziehungsbegriff her denken (vgl. Bleisch 2015; Bleisch/Betzler 2015; Bleisch 2018; Honneth/Rössler 2008; Jurczyk 2020; König/Kreft 2021). Darüber hinaus stellt sich in nichttheologischen Ansätzen der Sozialwissenschaften beispielsweise der zuvor bemerkte Konnex von Familie und Ehe in normativer Hinsicht überhaupt nicht, weshalb die Frage nach einem Leitbild für Familie nicht zu den Kernfragen gehört.

    Eine grundlegende Erarbeitung eines protestantischen Familienbegriffs setzt vor allem bei der engen Verbindung von Ehe und Familie an. Denn das eigentliche Proprium der Familie geht verloren, wenn man sie strikt von der Institution der Ehe oder Partnerschaft her denkt. Familie als Lebensform der Gemeinschaft, in der über einen gewissen Zeitraum Verantwortung für partizipierende Akteur*innen übernommen wird, lässt sich nicht exklusiv über die Institution der Ehe plausibilisieren. Denn durch diese enge Verbindung, in der zumeist der Fokus auf die Reproduktionsfähigkeit gerichtet oder eine schöpfungstheologische Einbettung der Familie vorgenommen wird, was gleichzeitig mit hohen moralischen Forderungen einhergeht (vgl. Polke 2021: 96f.), wird der Blick auf die Familie als eigene Lebensform in ihrer Vielgestaltigkeit verstellt. Ausführliche Aufarbeitungen aus der Sozial- und Kulturwissenschaft machen deutlich, dass damals wie heute leibliche Verwandtschaft kein Garant für ein gelungenes Zusammenleben sind. Vielmehr bedarf es eines „sozialen Beziehungsgeflecht[s]“ (v. Braun 2018: 487), das das familiale Zusammenleben durchzieht.

    Diverse Möglichkeiten der Operationalisierung des Themas bieten sich an. So lässt sich in der Konfirmand*innenarbeit die Begehung der Konfirmation bewusst als Familienkasus plausibilisieren. Familienmitglieder können thematisch mit eingebunden werden. Darüber hinaus bietet das Thema „Familie“ verschiedene Momente thematischer Anknüpfung. Etwa in Richtung von Selbst- und Fremdwahrnehmung respektive -bestimmung, von Fragen der Zugehörigkeit und Vorurteilen, der Erkundung verschiedener Familienmodelle über Fragen der sexuellen Identität oder schließlich von Fragen der eigenen Zukunftsperspektive. Anhand biblischer Geschichten, bspw. Jesus im Tempel, Kain und Abel, der Josephsgeschichte oder dem Gleichnis vom verlorenen Sohn lassen sich unterschiedlichste Blickwinkel auf familiale Strukturen menschlichen Zusammenlebens einnehmen, die zur eigenen Reflexion anregen. Die Beschäftigung mit der Familie ist unlösbar mit der Frage nach dem Woher und Wohin des Daseins verbunden. Grundsätzlich lässt sich Familie als Lernort des Glaubens verstehen (vgl. Domsgen 2006).

    Bayerl, M.: Die Familie als gesellschaftliches Leitbild. Ein Beitrag zur Familienethik aus theologisch-ethischer Sicht (EThSt 92), Würzburg 2006.

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    Domsgen, M.: „Familie ist, wo man nicht rausgeworfen wird.“ Zur Bedeutung der Familie für die Theologie. Überlegungen aus religionspädagogischer Perspektive, in: ThLZ Nr. 5 (2006), 467-486.

    Gräb-Schmidt, E.: Gerechtigkeit in den Institutionen am Beispiel von Ehe und Familie, in: Heckel, U./Kampmann, J./Leppin, V. u.a. (Hg.): Luther heute. Ausstrahlung der Wittenberger Reformation, Tübingen 2017, 319-350.

    Honneth, A./Rössler, B. (Hg.): Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Frankfurt a. M. 2008.

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    Jurczyk, K./Lange, A./Thiessen, B.: Doing Family als neue Perspektive auf Familie. Einleitung, in: dies. (Hg.): Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist, Weinheim/Basel 2014, 7-48.

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    König, B./Kreft, M. (Hg.): Protestantisches Familienbild? Theologische und sozialphilosophische Reflexionen auf ein strittiges Konzept, Leipzig 2021.

    König, B./Kreft, M.: Vorwort, in: König, B./Kreft, M. (Hg.): Protestantisches Familienbild? Theologische und sozialphilosophische Reflexionen auf ein strittiges Konzept, Leipzig 2021, 7-13.

    Kotzur, M./Vasel, J.J.: Art. 6 Rn. 45 zur gesellschaftlichen Entwicklung, in: Stern, K./Becker, F. (Hg.): Grundrechte Kommentar, Köln 22016.

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    Polke, C.: Familie als demokratische Lebensform. Sozial- und bildungsethische Perspektiven, in: König, B./Kreft, M. (Hg.): Protestantisches Familienbild? Theologische und sozialphilosophische Reflexionen auf ein strittiges Konzept, Leipzig 2021, 91-113.

    Rendtorff, T.: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen
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    Rebert, C.: Lebenssinn Familie. Bedeutungsdimensionen von Geschlechter- und Generationsverhältnissen im Anschluss an F.D.E. Schleiermacher (Schleiermacher-Archiv 31), Berlin/Boston 2020.

    Richter, C.: Das Christentum – Familienreligion, Familienglaube, Familienmythos?, in: EKD (Hg.): Familie leben. Fachkonsultation für Kirche und Diakonie, Frankfurt a. M. 2020, 23-28.

    Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

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    Thiessen, B.: Gender Trouble evangelisch. Analyse und Standortbestimmung, in: Hark, S./Villa, P.-I. (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplatz aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015, 149-160.

    Von Braun, C: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte, Berlin 2018.

    Wirth, M: Queer Families: Effect and Effictivity of a Reformed Theology, in: Theology Today 78/2 (2021), 123-139.