Der Begriff der Tugend scheint auf den ersten Blick antiquiert und unmodern. Dabei haben die Tugendethiken in der jüngsten Vergangenheit einen Boom erlebt, u.a. weil sie in einer pluralen Welt den Blick auf das Individuum richten.
Als klassische Entwürfe gelten die Tugendlehren von Aristoteles und Platon.
Tugendethik ist der Überbegriff für eine Klasse von ethischen Theorien, deren zentraler Begriff die menschliche Tugend ist.
Tugendethiken setzen bei den handelnden Personen an und fragen danach, über welche "Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten" (Reuter 2015a: 25) eine Person verfügen sollte, um gut zu handeln.
Tugend lässt sich definieren als "das Ideal der (Selbst-)Erziehung zu einer menschlich vortrefflichen Persönlichkeit" (Höffe 2008: 317).
Die Tugendethik kann vereinfacht als eine der drei Grundformen der ethischen Theoriebildung klassifiziert werden. Sie stellt einen dritten Typus dar neben Pflichtethiken, die sich auf Pflichten und Normen im Kontext des sittlichen Handelns berufen, und Güterethiken wie beispielsweise der Utilitarismus, die auf die Wirkungen sittlichen Handelns abzielen. Nicht die Pflichtmäßigkeit einer Handlung oder die Wirkung einer Handlung steht bei der Tugendethik im Fokus, sondern die Person und ihre Eigenschaften. Die Grundfrage lautet folglich: Wie kann ein Mensch gut handeln? (vgl. Reuter 2015a: 25).
Es ist der Differenzierung dienlich, zwischen Tugendlehre bzw. Tugendtheorie und Tugendethik zu unterscheiden, denn Theorien der Tugend befassen sich mit Tugenden und Charaktereigenschaften, ohne zwangsläufig eine Tugendethik auszubilden (vgl. Swanton 2013: 316).
Grundsätzlich sind sich Tugendethiker darin einig, dass die Vorstellung, es gebe Prinzipien, die klar angeben, was zu tun ist und was nicht, abzulehnen ist (vgl. Rippe/Schaber 1998: 8).
Ethische Fragestellung:
Es stellt sich die Frage, ob reine Tugendethiken wirklich Aufschluss darüber geben können, wie allgemeinverbindliche Handlungsregeln aussehen sollen. Das alleinige Betrachten des Charakters einer Person unter Absehung ihrer Handlungen und deren Wirkung, scheint für eine Ethik nicht ausreichend. Außerdem erscheint ein solches Vorgehen der menschlichen Intuition entgegengesetzt, denn Menschen bewerten nie allein "Charaktereigenschaften von Personen", sondern immer auch "die Handlungen selbst" (Rippe/Schaber 1998: 14).
Es bleibt fraglich, wie bei praktischen und konkreten Fragen eine Orientierung möglich sein soll, wie beispielsweise beim Schwangerschaftsabbruch und bei der Sterbehilfe. Ist es hier hilfreich und praktikabel in der konkreten Situation auf das vorbildliche Verhalten einer tugendhaften Person zu verweisen?
Darüber hinaus besteht grundsätzlich das Problem, dass der wahre Charakter einer Person nur schwer zu ermitteln ist und nur indirekt aus den Handlungen abgelesen werden kann. Es bleibt insgesamt die Frage bestehen, wer eigentlich als tugendhafte Person gelten kann und was eine solche Person kennzeichnet (vgl. Louden 1998: 199f.). Hinzu kommt, dass sich dies in verschiedenen Gesellschaften mit ihrer jeweiligen Geschichte und ihren Traditionen unterschiedlich gestalten kann.
Basisinformationen
Tugendethiken richten den Blick auf den einzelnen Menschen. Sie fragen danach, welche Grundhaltungen ihn zu einem guten Verhalten bewegen.
Tugend kann beschrieben werden als das Ideal, als Mensch eine vortreffliche Persönlichkeit zu sein. Dies erfordert Übung und zeigt sich in moralischem Handeln, welches weder durch sozialen Zwang noch durch Zufall bestimmt wird, sondern in Freiheit geschieht:
"Tugenden zu haben heißt, sein Leben in Verantwortung für sich und die Mitmenschen zu führen" (Höffe 2013: 83f.) – das zeigt sich nicht nur in außerordentlichen Heldentaten, sondern im gesamten Leben, im Alltag und im Miteinander.
Die Grundfrage der Tugendethik lautet: Wie kann ich oder wie können wir gut handeln?
Der Begriff der Tugend findet sich schon bei Aristoteles.
In der Folgezeit haben sich folgende vier Haupttugenden, die sogenannten Kardinaltugenden, herausgebildet: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit.
Zum Beispiel ist es für einen gerechten Menschen mit der Grundhaltung der Gerechtigkeit selbstverständlich und nach viel Übung in sein alltägliches Handeln übergegangen, sich anderen Menschen gegenüber dafür einzusetzen, dass ihre Würde und ihr Menschsein geschützt sind. Er tut seinen Mitmenschen kein Unrecht an und schützt sie davor, Unrecht erleiden zu müssen (vgl. Höffe 2008: 318).
Auch in der Gegenwart wird auch in öffentlichen Debatten auf Tugenden Bezug genommen, wenn beispielsweise "von Managern Mäßigung, von Politikern Verantwortungsbereitschaft, von Staatsbürgern Zivilcourage, von Andersdenkenden Toleranz und unserem Arzt Empathie" (Reuter 2015b: 204) erwartet wird.
Das Wahrheitsmoment der Tugendethik liegt darin, dass es nicht nur um richtiges Handeln und dafür gültige Regeln geht, sondern dass auch die Fähigkeiten des Menschen in den Blick kommen, sich von Herausforderungen zum Handeln anspornen zu lassen und gegenüber den Herausforderungen eine ethisch angemessene Haltung zu entwickeln. Dabei werden die menschlichen Emotionen ernstgenommen, die zur Bildung des Charakters beitragen (vgl. Huber 2013: 206).
Fachinformationen
Der Begriff der Tugend geht zurück auf Aristoteles, der damit eine "zur zuverlässigen Gewohnheit gewordene Haltung, einen Habitus" (Honecker 2002: 89) bezeichnete. Er nahm eine Unterscheidung zwischen Verstandestugenden und ethischen Tugenden vor.
Aristoteles benannte das vom Menschen gewollte Gute als eudaimonia (griech. Glück); darunter verstand er ein gelingendes Leben als Ganzes. Das ethisch Gute bestimmte er sodann als die "Lebensweise, die der Natur des Menschen als mit Sprache und Vernunft begabtem Lebewesen am besten entspricht" (Reuter 2015b: 205). Tugenden sind die Eigenschaften und Fähigkeiten, die einem Menschen ermöglichen in dieser Form gut zu handeln.
Aristoteles bestimmt das Profil einer Tugend nach dem Kriterium der rechten Mitte: Damit bildet beispielsweise die Großzügigkeit die Mitte zwischen Geiz und Verschwendung. Tugend ist "somit inhaltliche Festlegung auf die Vermeidung von Extremhaltungen und damit die höchste Form gelungenen menschlichen Handelns" (Honecker 2002: 89f.).
Seit Platon werden vier Grundhaltungen, die sogenannten Kardinaltugenden, unterschieden: Die Klugheit ist eine Verstandestugend, die dazu befähigt, die richtigen Wege und Mittel in einer bestimmten Situation zu erkennen und so das Gute zu verwirklichen. Die weiteren drei Kardinaltugenden sind sittliche Tugenden, die in Ergänzung zur Klugheit den Menschen befähigen das sittlich Gute zu verfolgen und zu tun. Sie sind an sich nicht festgelegt, sondern sind, wie Aristoteles erkannte, in der jeweiligen soziokulturellen und persönlichen Situationen neu am Maßstab der rechten Mitte zu ermitteln.
Gerechtigkeit ist dabei eine Haltung, die die eigene Würde und die Würde der Mitmenschen achtet. Sie wehrt das Tun von Unrecht wie auch das Erleiden von Unrecht (vgl. Höffe 2008: 318). Die Tapferkeit ist eine Haltung, die in der rechten Mitte für das eigene Leben und die eigenen Überzeugungen gegen jegliche Form der Bedrohung eintritt. In Situationen wie Krankheit, Leid oder Verfolgung hält sie dazu an, zum eigenen Leben und der eigenen Würde zu stehen. Besonnenheit (Maß) findet die Mitte zwischen der zügellosen Befriedigung von Begierden und Triebkräften und der Unterdrückung derselben. Dem menschlichen Verlangen nach Essen, Trinken, Sexualität, Reichtum und Geltung wie auch das Vermeiden von Leid und Schmerzen wird die Eigenmacht genommen und diese werden ausbalanciert.
Die Theologen der alten Kirche bemühten sich, die Tugendlehre der Antike in die christliche Ethik zu integrieren. Dabei werden die vier Kardinaltugenden mit den drei christlichen Gnadengaben, namentlich Glaube, Liebe und Hoffnung aus 1. Kor 13, verknüpft. Nach dem Kirchenvater Augustin kann es keine wahre Tugend geben ohne die Liebe, die von Gott geschenkt und durch Christi Gnade gewirkt ist (vgl. Honecker 2002: 90).
Mit Thomas von Aquin findet die Verbindung der aristotelischen Tugendlehre und der christlichen Gnadenlehre theologisch ihren Höhepunkt und ihren Abschluss. Er verwebt die Tugenden des moralischen Lebens mit dem Gnadenwirken Gottes, indem er die Liebe als die Form aller Tugenden beschreibt. Glaube, Hoffnung, Liebe können allerdings nicht angeeignet und eingeübt werden, sondern sind ein Geschenk der sakramental vermittelten Gnade. Als "eingegossener" Habitus ermöglichen sie eine Ausrichtung des Menschen an der "schöpfungsgemäßen Wesensnatur" (Reuter 2015a: 40) des Menschen. So wird es dem Menschen möglich, an Gottes Leben teilzuhaben und verdienstliche Werke zu tun (vgl. Reuter 2015a: 40).
Bis heute werden die Handlungen des Menschen in der katholischen Moraltheologie vorrangig in einer Tugendethik zum Ausdruck gebracht (vgl. Honecker 2002: 90).
Die reformatorische Kritik wendet sich vor allem gegen die Verbindung von Tugendlehre und Gnadenlehre. Mit der Rechtfertigungslehre wehrte sich Martin Luther gegen die Verdienstlichkeit der Werke des Menschen. Damit wird auch die Tugendlehre obsolet: "Reformatorisches Denken bestreitet somit die Möglichkeit einer Tugendlehre als Ethik der Erlösten, welche die Tugenden begreifen und praktizieren will als Möglichkeit und Garantie meritorischen (d.h. verdienstlichen) Handelns" (Honecker 2002: 91).
Die reformatorische Unterscheidung von Glauben und Werken bringt eine Distanzierung zu den Tugenden mit sich, diese werden weltlich und profan. Trotz einer deutlichen deontologischen Struktur der Ethik Luthers integriert auch er tugendethische Argumentationen und entwickelt in Abgrenzung zu Thomas von Aquin ein anders gelagertes Verständnis der Tugend: "Hier wird Tugend nicht reflexiv, sondern relational, responsorisch und exzentrisch aufgefaßt, nicht als persönliche Selbstrealisierung und Vervollkommnung, sondern als diakonische, nach außen gerichtete Haltung, die Gott und dem Mitmenschen dient und Gemeinschaft bewahrt" (Asheim 2006: 255-256).
In der lutherischen Theologie tritt terminologisch die Lehre von den guten Werken an die Stelle der Tugendlehre. Das gute Werk orientiert sich am Nutzen für den Nächsten und nicht am Habitus des handelnden Menschen.
In der Neuzeit schwindet die "ontologische Stabilität der Ethik im Allgemeinen und die der Tugenden im Besonderen" (Wils 2006: 376).
Für René Descartes ist damit in der Ethik keine Sicherheit zu erwarten wie in den theoretischen Wissenschaften. In seinem späten Werk "Les passions de l’âme" entwickelt er seine Ethik als Lehre von den Leidenschaften und benennt die Tugenden als "Gewohnheiten der Seele". Damit werden sie nun zu "subjektiven Willensleistungen", die den naturalen Leidenschaften, d.h. den nicht direkt intentional zugänglichen Leidenschaften, etwas entgegenhalten und so zu deren Mäßigung führen (Wils 2006: 376).
Mit David Hume wird die Distanz zur aristotelischen Tugendlehre noch erweitert, denn er kennzeichnet die Tugend als "jede geistige Tätigkeit oder Eigenschaft, die in einem Zuschauer das angenehme Gefühl der Billigung wachruft" (Hume 2003: 128, kursiv im Original). Ihm geht es um ein allgemeines Gefühl, das die Moralität bestimmt.
Dagegen ordnet Immanuel Kant die Tugendlehre der Pflichtenlehre unter. Tugend definiert er als "die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht" (Marwede 2015: 2337). Kant kann so von "Tugendpflichten" (Kant 1966: 240) sprechen.
In der Zeit nach Kant kommt es zu zwei Entwicklungen: Zum einen wird die Tugend in der Romantik wieder stärker in den Fokus gerückt. Novalis beispielsweise identifizierte die Tugend wieder mit Kraft und Vermögen, sie wird für ihn zu "einem Gefühl der Kraft" (Wils 2006: 377). Zum zweiten reagiert Friedrich Nietzsche. Er wittert in der Tugend vor allem "moralische Mittelmäßigkeit" und "die Schwäche der Zu-kurz-Gekommenen" (Wils 2006: 377), die für ihre Selbsterhaltung eine Tugendethik benötigen. Diese hält er für "lebensverneinend" und "voller Ressentiments gegen die Stärkeren" (Wils 2006: 377).
Grundsätzlich existieren reine und gemischte tugendethische Ansätze. Gemischte Ansätze lassen auch andere moralische Handlungsgründe zu, wie beispielsweise utilitaristische oder deontologische, wobei die reinen Ansätze einzig die Tugenden als moralische Gründe gelten lassen.
Reine tugendethische Ansätze, als Alternativen zu den vorherrschenden Regelethiken kantischer und utilitaristischer Provenienz, haben in den letzten Jahren eine beachtliche Renaissance erfahren: "Die Tugendethik boomt" (Borchers 2001: 12).
a. Ethische Debatte
Die Initialzündung der tugendethischen Auseinandersetzung der Moderne und die Wiederaufnahme der Tugenden gehen zurück auf Aufsätze von Elizabeth Anscombe und Philippa Foot.
Anscombe veröffentlichte ihren Aufsatz "Modern Moral Philosophy" erstmals 1958 (Anscombe 1958 bzw. 2014). Philippa Foot publizierte die beiden Beiträge "Moral Arguments" und "Moral Beliefs" in einem Aufsatzband 1978 (Foot 1978).
Der Anfang der Wiederentdeckung der Tugendethik ist geprägt durch verschiedene Intentionen (vgl. Halbig 2013: 9f.). Eine Richtung, die beispielsweise G. Elizabeth M. Anscombe, Michael Stocker und Alasdair MacIntyre vertreten, wendet sich mit der Forderung nach einer Wiederbelebung der Tugenden polemisch gegen die moderne Moralphilosophie.
Anscombe verweist darauf, dass moralische Verpflichtungen, die auf einen Gesetzgeber (Gott) zurückgehen, mit dem Verlust des Glaubens in der Moderne keinen Sinn mehr machen: "Der Glaube an ein göttliches Gesetz wurde schon vor langer Zeit aufgegeben, der Begriff der ‚Pflicht‘ hat diesen Zusammenhang überlebt [...]" (Anscombe 2014: 151).
Stocker spricht von einer "moralischen Schizophrenie" der modernen ethischen Theorien, die sich für den Handelnden zwischen den Gründen für sein Handeln und seinen Motiven auftut (vgl. Stocker 1998: 19f.).
MacIntyre diagnostiziert der modernen Moralphilosphie, dass sie menschliche Urteilpraxis auf die Äußerung emotiver Einstellungen verkürze und damit, ohne es zu reflektieren, wiederspiegele, dass in der Moderne verbindliche Praktiken und Traditionen verloren gegangen sind (vgl. MacIntyre 1987). Tugenden sind für ihn traditions- und kontextgebunden und werden erworben und eingeübt "durch die Zugehörigkeit zu identitätsstiftenden Gemeinschaften, ihren Traditionen und Erzählungen" (Reuter 2015b: 210).
Eine weitere Richtung versucht auf restaurative Weise mit den krisenhaften Erfahrungen der Moderne umzugehen und sich auf die Ursprünge der Tugendethik zu besinnen. Im Zentrum steht dabei die aristotelische Ethik. Auch Philippa Foot bezieht sich mit ihrer Tugendethik auf Aristoteles neben Thomas von Aquin (vgl. Foot 1998). Tugendethik und neoaristotelische Ethik werden zu austauschbaren Begriffen (vgl. Hursthouse 1991: 223). Systematische Theoriebildung und philosophie-historische Forschung gehen hier Hand in Hand (Halbig 2013: 10).
Eine dritte Richtung bemüht sich auszuweisen, dass die Tugendethik als Theorietyp eigenständig neben konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen bestehen könne. Ausgehend von Schwächen der beiden anderen Ansätze wird entweder versucht, die Eigenständigkeit der Tugendethik darzulegen oder die spezifischen Merkmale einer Tugendethik herauszustellen oder es soll nachgewiesen werden, dass eine Tugendethik in der Lage ist, die Nachteile der anderen Ansätze zu vermeiden.
Inhaltlich wird dabei besonders auf drei Schwächen oder Defizite der modernen Moralphilosophie rekurriert (vgl. Bayertz 2005: 122).
Die erste Kritik wendet sich gegen den Begriff der Pflicht und entsprechend auch gegen den Begriff des (moralischen) Sollens. Anscombe weist darauf hin, dass diese Begriffe nur in Verbindung mit einer "theonomen Moralauffassung" (Bayertz 2005: 122), die einen göttlichen Moralgesetzgeber zur Grundlage hat, verständlich seien. Eine solche Moralvorstellung werde aber nicht mehr mehrheitlich und universell geteilt, sodass konsequenterweise der Begriff der Pflicht abgeschafft und ersetzt werden müsse durch den der antiken Tugend.
Als zweites wird die Betonung der Bedeutung von Regeln als Schwäche der modernen Moralphilosophie ausgewiesen. Tugendethiken zeichnen sich grundsätzlich durch eine große Skepsis gegenüber Regeln aus, da sie bezweifeln, dass Moral als kohärentes System von Regeln oder in Rückführung auf eine Regel konstruiert werden kann.
Bei der schwachen Variante dieser Überzeugung betonen die Vertreter, dass die "Regeln nicht hinreichend für moralisches Handeln sind" (Bayertz 2005: 123). Über die Regeln hinaus sei es notwendig, das der konkreten Situation Angemessene zu erkennen und zu tun. Diese Leistung könne aber nur mit entsprechenden charakterlichen Dispositionen erbracht werden: den Tugenden.
In der starken Variante wird die Regelskepsis so gewendet, "daß Regeln für die Erkenntnis des Guten und Richtigen auch nicht notwendig seien" (Bayertz 2005: 123).
Als einer der Vertreter dieser Position ist John McDowell zu nennen. Er vertritt die These, dass ein tugendhafter Mensch unmittelbar erkennt, was in einer bestimmten Situation zu tun ist und daher keine Regeln benötigt. Die Forderungen der Situation werden erkannt und direkt befolgt (vgl. McDowell 2002: 150f).
Eine dritte Kritik bzw. Anfrage knüpft daran an und fragt nach der Motivation zum Handeln. Selbst wenn Regeln benennen, was das Gute und Richtige sein soll und dazu befähigen, dies zu erkennen, folgt daraus nicht, dass ein Individuum das Richtige und Gute in der Folge auch tut. Regeln können also nicht an sich zum Handeln motivieren. Tugendethiker weisen auf diesen Punkt hin und sehen darin die Überlegenheit ihres Ansatzes: Die Frage nach der Motivation ist direkt mitbedacht, da es sich bei den Tugenden um "Handlungsdispositionen" (Bayertz 2005: 124, Hervorh. durch d. Verf.) handelt. Motivation entspringt außerdem aus der Zentralstellung der Frage nach dem eigenen guten Leben. Überdies ist den Tugenden eine emotionale Dimension inhärent (vgl. u.a. Borchers 2001: 162f.).
Im Gegensatz zu Regelethikern widmen sich Tugendethiker der Bedeutung moralischer Gefühle und unterstreichen die "affektive und emotionale Seite des moralischen Handelns" (Bayertz 2005: 124). So soll der intellektualistische und rationalistische Zugriff auf das Handeln der Regelethik korrigiert werden.
Martha Nussbaum befasst sich intensiv in diesem Kontext mit Emotionen und verfolgt das Anliegen, "die übliche Entgegensetzung von Vernunft und Erkenntnis einerseits, Gefühl und Emotion andererseits zu überwinden" (Bayertz 2005: 125).
Insgesamt geht es Nussbaum in ihrer nicht-relativistischen Tugendethik darum, in Aufnahme der aristotelischen Methode, die darauf beruht, "Tugendbegriffe in Korrelation zu allgemeinmenschlichen Erfahrungen" zu entwickeln, die "Tugenden als die zum Umgang mit diesen Grunderfahrungen erforderlichen Fähigkeiten (capabilities)" (Reuter 2015b: 210) zu beschreiben. Dies führt dazu, dass die als capabilities interpretierten Tugenden auf die "Gerechtigkeitspflicht des politischen Gemeinwesens" (Reuter 2015b: 210) verweisen. Alle Bürger sollen zu einem guten Leben in diesem Sinne befähigt werden.
Seit den 1990er Jahren verändert sich die Debatte und insgesamt differenzieren sich die tugendethischen Entwürfe merklich aus. Die Frontstellungen der Anfangszeit werden weitgehen aufgegeben. Auch die Tugendethik ist nun geprägt von einer Pluralisierung. Dies wird u.a. sichtbar daran, dass nicht mehr nur Aristoteles bzw. der "Neoaristotelismus", sondern auch andere Philosophen als Bezugspunkte für die Theoriebildung herangezogen werden, u.a. die Stoa und moderne Autoren, wie beispielsweise Britische Moral Sense-Ethiker des 18. Jh., sogar Nietzsche kann zum Gewährsmann werden (vgl. Bayertz 2005: 131).
Grundsätzlich lassen sich auch in der Gegenwart drei Konzeptionen der Tugendethik grob unterscheiden, um eine Übersichtlichkeit der Entwürfe zu gewährleisten (vgl. Swanton 2013: 320f.). Zum Einen gibt es eudaimonistische Tugendethiken, die das gute Leben und die Tugenden verbinden und in der Regel von Aristoteles beeinflusst sind (vgl. van Zyl 2015: 183f.). Zweitens können akteurzentrierte Ansätze in stärker oder schwächer ausgeprägter Form ausgemacht werden. Sie fokussieren den Handelnden im Gegenüber zu Begriffen oder Definitionen von Tugend. Und zum Dritten gibt es Tugendethiken, die sich auf Begriffe der Tugend fokussieren ("centered on virtue notions in general") (Swanton 2013: 328).
b. Evangelische Perspektive
Nach Friedrich Schleiermacher lässt sich die Ethik nach drei komplementären Leitaspekten entwickeln. Er unterscheidet zwischen dem Aspekt der Tugend als "das Handeln bestimmende[] Kraft", dem Aspekt der Pflicht als "normierende[] Regel" und dem Aspekt der Güter als "im Handeln anzustrebende[] Ziele[]" (Reuter 2015b: 204). Dabei ist die tugendethische Perspektive im Unterschied zu den anderen beiden nicht an Regeln und Ergebnissen orientiert. Schleiermacher selbst gibt der Güterethik den Vorrang, insofern von ihr aus die Einheit der drei Lehren gedacht wird.
Im 20. Jahrhundert orientierte sich die evangelische Ethik, als Nachwirkung zu Kant, vor allem am Primat des Gesetzes, bzw. der Pflicht.
Insgesamt lässt sich für die protestantische Ethik festhalten, dass die tugendethische Beschäftigung eher verhalten ausfällt und hier Nachholbedarf besteht (vgl. Hüttenhoff 2000: 486).
Im englischsprachigen Bereich knüpft der amerikanische Theologe Stanley Hauerwas an MacIntyre an und entwickelt einen "Entwurf eines dezidiert gegenweltlichen, christlichen Sonderethos" (Reuter 2015b: 210), das nur für eine bestimmte Gruppe gilt, nämlich für christliche Kirchen, die er als "Charaktergemeinschaften" (vgl. Hauerwas 1981) klassifiziert.
Eine solche Interpretation gerät in Gefahr, die Allgemeingültigkeit der Moral aufzugeben.
Konrad Stock hat sich dezidiert um einen Entwurf einer protestantischen Tugendlehre bemüht. In Abgrenzung zu Karl Barth entwickelt er diese nicht von der Gotteslehre, sondern geht von der Anthropologie aus und betont die Notwendigkeit einer "Theorie des Erlebens" (Stock 1995: 7). Er setzt sich mit der Frage auseinander, "wie und wodurch Christen handlungsfähig werden und welcher Zusammenhang zwischen der inneren Glaubensgewissheit und der Handlungsfähigkeit des Christen besteht" (Honecker 2002: 96).
Auch Michael Hüttenhoff verweist auf die produktiven Aspekte der Integration der tugendethischen Perspektive, ihm geht es dabei aber nicht um ein Primat der Tugend. Er betont stattdessen, dass die Tugenden dem Bereich der aktiven Gerechtigkeit zugeordnet werden sollten (vgl. Hüttenhoff 2000: 484f.).
c. Konsequenzen
Die Integration einer tugendethischen Perspektive ermöglicht den Blick auf das Individuum, seine Emotionen, seine Dispositionen und Handlungsmotivationen. Ethik kann nicht absehen von menschlichen Emotionen und "deren Steuerung durch die Bildung des Charakters" (Huber 2013: 206). Das Wahrnehmen kann so gegenüber dem Handeln in den Blick kommen. Hier zeigt sich das tiefe Wahrheitsmoment. Es gilt, die Individualität der handelnden Person "gegen eine uniformierende, universalistische Moraltheologie" (Honecker 2002: 98) hervorzuheben.
Gleichzeitig bleiben gewisse Schwächen und Schwachstellen der überkommenen Tugendlehre bestehen, die es zu bearbeiten gilt. Dem Begriff der Tugend und auch den einzelnen Tugenden eignet z.B. ein "starkes emotives Bedeutungselement": Im Begriff schwingen positive Konnotationen mit, im Gegensatz zu Lastern, die negativ konnotiert sind (Honecker 2002: 98). Wer das Wort Tugend benutzt, drückt damit Anerkennung und Lob aus. Der "emotionale Gehalt des Tugendbegriffs" sollte nicht gegen Begründungen sittlichen Verhaltens mit Argumenten der Vernunft ausgespielt werden (vgl. Honecker 2002: 98).
Tugenden gibt es nur im Plural. Ihr Profil scheint sich überdies im Laufe der Geschichte zu wandeln und damit verändert sich auch, wie eine Tugend in Erscheinung tritt.
Insgesamt erscheint ein rein tugendethischer Zugriff als zu kurz gedacht, da andere Aspekte nicht in den Blick kommen. Um dies zu verdeutlichen: "Das Ideal des tugendhaften Arztes gibt beispielsweise keine befriedigende Antwort auf die Ordnungsprobleme des Gesundheitswesens und -systems" (Honecker 2002: 98).
Dringliche globale Probleme wie Bevölkerungsentwicklung, Umweltschutz oder kriegerische Konflikte werden sich nicht lösen lassen durch Appelle an ein tugendhaftes Verhalten einzelner Akteure. Es wird deutlich, dass auch "Reflexionen einer Regelethik, eine Theorie der Institutionen, welche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen und ethische Verantwortung thematisiert oder eine Güterlehre" (Honecker 2002: 98) von Nöten sind.
Die Bestimmung dessen, was gut ist, kann nicht nur vom individuellen Verhalten her beurteilt werden, sondern muss sich auch am Ergebnis messen lassen. Eine Ethik kann also nicht nur auf der Bewertung eines Charakters beruhen, ohne Handlungen und Handlungsfolgen in den Blick zu nehmen. Insgesamt bleibt es schwierig, aus persönlichen Eigenschaften allgemeinverbindliche Handlungsregeln abzuleiten (vgl. Reuter 2015a: 43) und in konkreten Konfliktsituationen auf das Vorbild eines Tugendhaften zu verweisen.
Ethik in der Praxis
a. Möglichkeiten der Operationalisierung
Tugendethische Überlegungen lassen sich beispielsweise in Predigt oder Unterricht dann integrieren, wenn es um das Individuum, dessen Motivationen und Einstellungen geht, allerdings darf das spezifisch evangelische Profil nicht aus dem Blick geraten.
Die philosophische Beschäftigung mit der Tugendethik findet in der gymnasialen Oberstufe in Bayern in der 12. Jahrgangsstufe statt. Hier werden ethische Grundbegriffe und Grundformen ethischer Theoriebildung behandelt. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem guten Leben wird sowohl auf die eudaimonistische Ethik eingegangen als auch auf ein christliches Verständnis vom guten Leben. Im Unterrichtsfach Ethik der gymnasialen Oberstufe in der Jahrgangsstufe 11 wird die Tugendethik vor allem bei Aristoteles aufgenommen.
b. Fragen/Thesen zur Diskussion
Im Folgenden sollen einige Diskussionsfragen geboten werden, die eventuell bei der Beschäftigung mit dem vorliegenden Thema helfen können:
- Was macht einen tugendhaften Menschen aus und wie handelt dieser?
- Was versteht man unter einer Tugend? Welche Tugenden gibt es?
- Welche Gründe sprechen für eine Aufwertung der Tugenden innerhalb der Ethik? Welche Gründe sprechen dagegen?
- Kann die Orientierung an Tugenden ausreichend sein für moralisches Handeln innerhalb einer Gemeinschaft?
- Kann auf Regeln verzichtet werden?
- Bietet eine tugendethische Orientierung Antworten bei konkreten ethischen Fragen wie beispielsweise beim Schwangerschaftsabbruch oder bei der Sterbehilfe?
- Wie lassen sich tugendethische Elemente in eine evangelische Ethik integrieren?
Ergänzungen der GPM (redaktionell hinzugefügt)
(1) Explizite Thematisierung:
Ev 12.2 »Was soll ich tun? Die Frage nach der richtigen Lebensführung«:
mit Grundbegriffen der Ethik umgehen und ausgewählte Ansätze philosophischer Ethik kennen. Dazu Terminologie und Einordnungskriterien (deontologisch, teleologisch; situativ, normativ; Gesinnung, Verantwortung) anhand von Grundmodellen ethischen Argumentierens: Pflichtethik I. Kants und Utilitarismus
ER 12.2 »Die Frage nach dem guten Leben«
Die SuS setzen sich mit Grundmodellen und Entwürfen philosophischer Ethik auseinander und vergleichen sie im Blick auf ihre Vorstellungen von gutem Leben. Inhalte dazu: ethische Grundbegriffe und Einordnungskriterien: Moral, Ethik und weitere wie autonom, heteronom, deontologisch, teleologisch, Normen-, Situations-, Gesinnungs-, Verantwortungs-, Tugendethik
(2) Weitere Anknüpfungsmöglichkeiten:
Ev 10.5 »Tun und Lassen«
Die Schüler […] verstehen Grundbegriffe ethischer Reflexion und wenden sie an.
Ev 11.4 »Gesund und Heil«
Christliche Impulse für den Umgang mit Krankheit und Begrenzung auf eine medizinethische Fragestellung beziehen (z.B. aktive Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik/pränatale Diagnostik, Genmanipulation); dazu Wahrnehmung des Problems aus verschiedenen Perspektiven
Literatur
Basisliteratur
Höffe, O.: Ethik. Eine Einführung, München 2013.
Huber, W.: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod, München 2013.
Vertiefende Literatur
Anscombe, G. E. M.: Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33 (1958), 1–19.
Anscombe, G. E. M: Aufsätze, Berlin 2014.
Asheim, I.: Lutherische Tugendethik?, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 40/3 (1998), 239–260.
Bayertz, K.: Antike und moderne Ethik. Das gute Leben, die Tugend und die Natur des Menschen in der neueren ethischen Diskussion, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59 (2005), 114–132.
Borchers, D.: Die neue Tugendethik – Schritt zurück im Zorn? Eine Kontroverse in der Analytischen Philosophie, Paderborn 2001.
Fischer, J.: Verstehen statt begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012.
Foot, P.: Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy, Berkeley/Los Angeles 1978.
Foot, P.: Tugenden und Laster, in: Rippe, K./Schaber, P. (Hg.): Tugendethik, Stuttgart 1998, 69–91.
Halbig, C.: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt a. M. 2013.
Hauerwas, S.: A Community of Character. Towards a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1981.
Höffe, O.: Tugend, in: Lexikon der Ethik, München 72008, 317–320.
Honecker, M.: Wege evangelischer Ethik. Positionen und Kontexte, Freiburg/Schweiz 2002.
Hüttenhoff, M.: Tugend und Haltung. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97/4 (2000), 463–486.
Hume, D.: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Stuttgart 2012.
Hursthouse, R.: Virtue Theory and Abortion, in: Philosophy & Public Affairs 20/3 (1991), 223–246.
Kant, I.: Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Anfangsgründe der Rechtslehre. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Hamburg 1966.
Louden, R. B.: Einige Laster der Tugendethik, in: Rippe, K., Schaber, P. (Hg.): Tugendethik, Stuttgart 1998, 185–212.
MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1987.
Marwede, Florian: Art. Tugend, in: Willaschek, M. u.a. (Hg.): Kant-Lexikon, Boston / Berlin 2015, 2337–2339.
McDowell, J.: Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie, Frankfurt a. M. 2002.
Reuter, H. R.: Art. Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Huber, W., Meireis, T. u.a. (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 9–123.
Reuter, H. R.: Tugend, in: Anselm, R., Körtner, U. H. J. (Hg.): Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015, 204–211.
Rippe, K. P., Schaber, P.: Tugendethik, Stuttgart 1998.
Stock, K.: Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh 1995.
Stocker, M.: Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, in: Rippe, K. P., Schaber, P. (Hg.): Tugendethik, Stuttgart 1998, 19–41.
Swanton, C.: The definition of virtue ethics, in: Russel, D. C. (Hg.): The Cambridge Companion to Virtue Ethics, New York et al. 2013, 315–338.
Wils, J. P.: Tugend, in: Wils, J. P., Hübenthal, C. (Hg.): Lexikon der Ethik, Paderborn et al. 2006, 375–379.
van Zyl, L.: Eudaimonistic Virtue Ethics, in: Besser-Jones, L., Slote, M. (Hg.): The Routledge Companion to Virtue Ethics, New York et al. 2015, 183–195.
Veröffentlicht am 12.07.2018 (Version 1.0).
Zitierweise:
Hoffmann, A. F.: Art. "Tugendethik" (Version 1.0 vom 12.07.2018), in: Ethik-Lexikon, verfügbar unter: https://www.ethik-lexikon.de/lexikon/tugendethik.