Traditionell ist die evangelische Ethik mit dem Anspruch konfrontiert "schriftgemäß" zu sein. Was es heute jedoch heißen kann und soll, dass die evangelische Ethik in einem angemessenen Verhältnis zum biblischen Zeugnis steht, ist umstritten. Zwischen den problematischen Extremen einer unkritischen Nutzung der Bibel als moralisches Gesetzbuch und einer gänzlichen Ignorierung der Bibel lotet die evangelische Ethik unterschiedliche Möglichkeiten aus, ethische Reflexion durch den Bezug auf die Bibel zu bereichern.

    Basisinformationen

    Dass der Bibel als Heiliger Schrift im evangelischen Christentum eine zentrale Bedeutung zukommt, ist unstrittig. Insbesondere in der Reformation wurde die Heilige Schrift als maßgebliche Quelle und Norm christlichen Glaubens und Handelns hervorgehoben. Inwiefern auch heute die Bibel noch als Norm auftreten kann, ist eine entscheidende Frage der Grundlegung evangelischer Ethik. Die Behauptung einer völligen Irrelevanz der Bibel für zeitgemäße Ethik oder ein Biblizismus, welcher unkritisch Vorgaben für die Lebensführung aus dem biblischen Zeugnis übernimmt, müssen als Extrempositionen gelten. Zwischen diesen Extremen finden sich jedoch unterschiedliche Anknüpfungsversuche evangelischer Ethik an das biblische Zeugnis.

    Aus der Bibel lassen sich keine unmittelbaren und konkreten Vorgaben für das gegenwärtige innerweltliche Handeln ableiten. Wenngleich in der reformatorischen Theologie ethische Reflexionen vorrangig als Auslegung der Bibel mit einer Zentralstellung des Dekalogs und der Bergpredigt auftreten, zeigt sich bereits hier eine starke Orientierung an zeitgenössischer Sozialphilosophie. Die ethische Auslegung der biblischen Schriften folgt damit immer auch Kriterien, die nicht aus der Bibel selbst stammen. Die bibelwissenschaftliche Forschung hat zudem zunehmend die historische Bedingtheit und spannungsreiche Vielfalt biblischer Aussagen zu ethischen Themen aufgedeckt. Viele ethische Normen der Bibel, wie z. B. die Goldene Regel, entstammen paganer Ethik der Antike. Die Bibel besteht aus literarischen Erzeugnissen von Verfassern, die sich angesichts konkreter sozialer, politischer und kultureller Verhältnisse orientieren und Orientierung weitergeben wollen. Diese Verhältnisse sind von unserer heutigen Situation grundlegend unterschieden. Eine überzeitliche ethische Norm lässt sich den biblischen Schriften daher nicht entnehmen.

    Stehen diese Erkenntnisse einer unkritischen Verwendung der Bibel als moralisierendes Gesetzbuch entgegen, ist damit keineswegs jegliche Bedeutung der Schrift für evangelische Ethik bestritten. Biblische Texte bieten für sich genommen zwar keine Begründung moralischer Urteile, aber sie schärfen doch eine ethische Verbindlichkeit des Glaubens ein, die auf moralische Handlungsausrichtung drängt. Sie verhelfen dazu, eine Wahrnehmung moralischer Probleme durch eine Orientierung am Nächsten und der Gleichheit aller Menschen vor Gott einzuüben und birgt ein emanzipatives Potential durch vielseitige Anstöße ethischer Reflexion. Die biblischen Zeugnisse sind geprägt von einer Wirklichkeitswahrnehmung, die bis heute unsere moralischen Beurteilungen herausfordert und zu denken gibt. Das entbindet nicht von der vernünftigen Reflexion der Lebensführung, sondern bekräftigt und motiviert vielmehr dazu, eine solche Reflexion kompromissorientiert unter Wahrnehmung der gegenwärtigen ethischen Problemstellungen aufzunehmen.

    Die Frage, welche Stellung die Bibel in der evangelischen Ethik einnehmen kann und soll, ist eine grundlegende metaethische Fragestellung. Sie stellt sich vor dem Hintergrund der Tradition des Schriftprinzips evangelischer Theologie und der daraus erwachsenen Forderung der Schriftgemäßheit evangelischer Ethik. Was und was nicht diese Forderung der Schriftgemäßheit heute bedeuten kann, wird anhand der Geschichte des Schriftprinzips und seiner Krise deutlich (1.). Dass die Bibel durch ihre enorme kulturelle Prägekraft auf ein christliches Selbstverständnis Einfluss auf evangelische Ethik nimmt, wird durch die mittelbare Bezugnahme auf biblisch geprägte Grundkoordinaten des christlichen Glaubens in ethischer Reflexion deutlich (2.). Johannes Fischer hat einen prägnanten Vorschlag zur Einbindung der Bibel in die evangelische Ethik als narrativ verfasste Wahrnehmungsschule moralischer Phänomene vorgelegt (3.). Ulrich H. J. Körtner konkretisiert die Forderung nach Schriftgemäßheit evangelischer Ethik als Forderung der ethischen Verbindlichkeit des christlichen Glaubens unter Wahrung der rechtfertigungstheologisch motivierten Unterscheidung von innerweltlicher Ethik und Heil (4.).
     

    a. Das Schriftprinzip der Theologie und seine Krise

    Die Bibel hat in der Reformationszeit ein enormes emanzipatives Potential gezeigt. Wurde die Bibel doch als entscheidende normative Ressource gegen die Autorität des kirchlichen Lehramtes in Stellung gebracht. Dabei ist für Luther entscheidend, dass die Bibel so klar und deutlich ist, dass sie sich geradezu selbst auslegt und damit für jede Gläubige und jeden Gläubigen leicht zugänglich und voll verständlich ist. Die Heilige Schrift allein soll in allen maßgeblichen Fragen des Glaubens und der Lebensführung vollkommen unstrittige Auskunft geben können. Die Bibel konnte so zum ersten Prinzip religiöser Lebensführung und kirchlicher Bekenntnisbildung erhoben werden.

    In der altprotestantischen Orthodoxie wurde dieser reformatorische Impuls zur Lehre vom Schriftprinzip der theologischen Wissenschaft ausgebaut. War das sola scriptura Luthers erst im Kontext der anderen Exklusivpartikel sola fide, sola gratia und solus Christus recht zu verstehen, avancierte es in der altprotestantischen Orthodoxie neben dem Materialprinzip der Rechtfertigungslehre als Formalprinzip zum wissensarchitektonischen Fundament der Theologie. Alle Aussagen der Theologie sollen sich daher auf das sichere Fundament biblischer Aussagen zurückführen lassen. Theologische Ethik erbe demnach ihre Autorität allein aus der verbalinspirierten Schrift. Vor diesem Hintergrund ist das moralische Urteilen auf der Basis von ausgewählten Schriftzitaten erklärbar. Die derartig starke Auffassung der Bibel als überzeitlich gültige Norm ethischer Urteilsbildung hat einerseits eine intensive Bibelforschung befördert. Die ihr zugrundeliegende Forderung der Klarheit der Bibel hat sich jedoch nicht auf Dauer einlösen lassen.

    In der Aufklärung wurde auch dank entscheidender Vorläufer des Pietismus die historisch-kritische Bibelforschung zu einer Herausforderung, die zu einer anhaltenden Krise des Schriftprinzips geführt hat. G. E. Lessing hat die Schrift als wächserne Nase gescholten, da sich unterschiedlichste und widersprüchliche Lehre aus ihr gewinnen lassen. G. W. F. Hegel drückte dies markant aus, indem er darauf verwies, dass nicht nur die Kirche, sondern auch alle Ketzereien sich auf die Bibel berufen haben und selbst der Teufel die Bibel zitiere. Die Schrift wurde verstärkt als unklar und widersprüchlich erfahren. D. F. Strauß hat radikal auf die lebensweltliche Ferne der Bibel und ihren mythischen Charakter hingewiesen. Die Religionsgeschichtliche Schule hat die religionsgeschichtliche Relativität biblischer Aussagen aufgedeckt. Diese relativierenden Beobachtungen wiederholten sich hinsichtlich des Kanonisierungsprozesses: Einer unmittelbaren normativen Aufladung des Kanons stehen heute Einblicke in seine menschliche, kulturell-überformte Genese, seine widersprüchlichen Auskünfte in Bezug auf Einzelfragen, seine Abhängigkeit von der umliegenden Religionsgeschichte usw. gegenüber. Vor dem Hintergrund dieser Einsichten müssen die biblischen Schriften als zeitbedingte literarische Texte aus sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen begriffen werden, die sich maßgeblich von unserer Situation unterscheiden. Eine unmittelbare Übertragung der Bibel in die Gegenwart, überspringt nicht nur diese lebensweltliche Ferne, sondern verkennt auch die eigenen zeitbezogenen Anliegen der biblischen Texte.

    Der Blick auf die Krise des Schriftprinzips raubt Versuchen, moralische Urteile direkt durch einzelne Bibelzitate abzusichern, ihre Überzeugungskraft. Wäre die Bibel der evangelischen Ethik nur ein moralischer Gesetzestext und evangelische Ethik nur der Versuch, gesetzliche Vorschriften und Pflichten aus der Bibel abzuleiten, könnte sie heute nicht mehr plausibilisiert werden. Vielmehr laden die Resultate historisch-kritischer Erforschung der Bibel zu einer grundlegend kritischen Haltung gegenüber der Schrift als äußerer Autorität an. Das Schriftzeugnis kann nicht von einer eigenverantwortlichen ethischen Reflexion der Gegenwart befreien. Es kann jedoch zu einer freien, situationssensiblen, verantwortlich-getroffenen Entscheidung jeder einzelnen Christin und jedes einzelnen Christen anleiten.
     

    b. Schrift als Quelle christlicher Identitätsbildung

    Das christliche Ethos ist maßgeblich durch die Bibel, die Geschichte ihrer Auslegung und der damit verbundenen Bekenntnisbindung geprägt. Daher ist christliche Ethik als Reflexion des christlichen Ethos auch auf die Wirkungsgeschichte der Bibel bezogen. Diese Prägekraft der Bibel für das Christentum ist jedoch nicht in erster Linie als Einprägung moralischer Gebote zu begreifen. "Die Bibel ist in ethischer Hinsicht nicht (zuerst) Normenquelle, sondern Quelle der Identitätsbildung." (Reuter 2015: 76). In diesem Sinne bietet die Bibel Deutehorizonte der eigenen Lebensführung in Erzählungen, Dichtungen, Bildern und Geboten.

    So wenig die Bibel auf viele der gegenwärtigen beispielsweise medizinethischen Problemfelder konkrete Anweisungen zu vergeben mag, weil die technischen Möglichkeiten heutiger Medizin dort schlicht nicht auftreten, können sehr wohl ethische Beurteilungen dieser Fälle aus der Perspektive eines auch biblisch geprägten Deutehorizonts des christlichen Glaubens vorgenommen werden. Dabei ist jedoch fraglich, ob ein Rekurs auf einzelne Bibelstellen Orientierungen angesichts der ethischen Herausforderungen der Moderne bieten kann. Unabhängig von ihrer Auslegungsgeschichte und der damit verwobenen Bekenntnisbildung kann die Prägekraft der Schrift auf ein christliches Ethos nicht adäquat bestimmt werden. Doch auch ein Rekurs auf Schrift, Bekenntnis und Dogmatik gibt in aller Regel keine ausreichenden Kriterien an die Hand, die detail- und voraussetzungsreichen ethischen Problemfelder der Gegenwart präzise wahrzunehmen und zu beurteilen. Evangelische Ethik ist daher immer auch darauf angewiesen, Kategorien in die ethische Reflexion zu übernehmen, die nicht der christlichen Auslegungs- und Bekenntnistradition entstammen. Der grundlegende Beitrag der Schrift besteht dann darin, eine biblisch geprägte Perspektive auf die Wirklichkeit auszubilden und in ethische Gegenwartsdiskurse einspielen, sofern sie sich darum bemüht, diese ihre Ausrichtung auch unabhängig von einer Perspektive des Glaubens plausibel zu machen. Einen Versuch die biblisch geprägten Grundkoordinaten christlicher Wirklichkeitswahrnehmung auf den Begriff zu bringen, bietet Reiner Anselm: "Glaube beschreibt ein umfassendes Ausgerichtet-Sein durch die Beziehung zu Gott, aus dem heraus sich eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit ergibt: Sie leitet dazu an die Weltlichkeit der Welt in ihrer Unterschiedenheit zu Gott zu akzeptieren und darum Fragen der Lebensführung immer nur als vorläufige und damit auf Kompromiss angelegte Fragen zu verstehen. Sie sensibilisiert dafür, jedem Einzelnen, den sie als Mitgeschöpf versteht, Freiheit in Gemeinschaft zu ermöglichen und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, das eigene Tun an der Zukunftsfähigkeit des menschlichen Lebens auszurichten." (Anselm 2011: 22)

    Ausgehend vom "biblisch-anthropologischen Modell des herausgerufenen und antwortenden Selbst" (Reuter 2015, 76) erläutert Hans-Richard Reuter die materiale Ausrichtung des christlichen Ethos durch den Verweis auf vier zentrale Topoi: Erstens die Hochstellung des Gewissensbegriffs, welcher Ausdruck eines allgemeinen moralischen Normbewusstseins, der Bewahrung personaler Identität und Integrität und der Hochschätzung individueller fallbezogener Urteilsfähigkeit ist. Zweitens einer durch die Gottesebenbildlichkeit begründete unbedingte Wertschätzung eines jeden, inklusive des eigenen Selbst. Damit ist zugleich die Berufung zur Sorge um die irdischen Güter verbunden. Drittens wird im Gedanken der Nächstenliebe eine universalistische Orientierung des eigenen Handelns an den Bedürfnissen des Nächsten das Wort geredet. Viertens schließlich wird durch die Lehre von der Sünde und der Erneuerung beziehungsweise durch die Unterscheidung zwischen Sünde und Sünder ein Festhalten an der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und seiner Urteilsfähigkeit zum Guten trotz Verstrickung in die Wirklichkeit des Bösen aufrechterhalten (Reuter 2015: 76-90).
     

    c. Schrift als Wahrnehmungsschule moralischer Phänomene

    Für Johannes Fischer dient die Schrift der theologischen Ethik heute als paradigmatische narrativ verfasste Schule der moralischen Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster (Vgl. Fischer 2011). Diese Muster prägen das christliche Ethos bis heute und befördern eine moralische Klugheit, die wirksame Handlungsgründe gegebenen Situationen zu entnehmen lehrt.

    Ob die Schrift für Ethik überhaupt noch eine Bedeutung haben kann, hängt für Fischer maßgeblich vom zugrundeliegenden Ethikverständnis ab. Die heute seiner Beobachtung nach übliche Regelethik ist ganz auf das richtige moralische Urteilen fokussiert. Zwischen Sein und Sollen besteht für diese Ethiken ein Hiatus. Ethik dieser Art ist damit befasst, das richtige moralische Urteilen unabhängig vom gegebenen Sein zu begründen. Hierfür kann die Bibel heute keinen Beitrag mehr leisten. Diese Spielarten der Ethik sind für Fischer jedoch ohnehin ausgesprochen irreführend.

    Ethik sollte sich vielmehr mit den einer Handlungssituation zu entnehmenden Gründen und Motiven für ein bestimmtes Handeln befassen. Es gilt, eine bestimmte Weise der moralisch klugen Wahrnehmung einer Situation zu stärken und zu vergewissern. Diese Art der Anschauung kann nicht künstlich zwischen Deskription und Präskription, zwischen Sein und Sollen, trennen. Ohnehin lässt sich moralisches Vokabular nicht ohne Handlungs- und Situationsanschauung verständlich machen. Artikulieren und prägen lassen sich derartige Anschauungen von konkreten Situationen durch Narrative. So bietet die Bibel in ihren konkreten Narrativen reiches Anschauungsmaterial grundlegender moralischer Handlungs- und Wahrnehmungsmuster. Vermittelt durch die Rezeption biblischer Geschichten haben diese Muster haben immer schon christliche Kulturen geprägt und sind in ihnen latent am Werk. Im Horizont eines so bestimmten christlichen Ethos prägen diese narrativ vermittelten Muster nicht zuletzt die konkrete Wahrnehmung und Anschauung auch gegenwärtiger Handlungssituationen. Das berühmteste Beispiel für eine solche biblische Erzählung ist diejenige vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Gerade in ihr wird deutlich: Die Wahrnehmungsmuster und Handlungsmotive, die Fischer im Blick hat, sind anderer Art als das allein rationale moralische Urteilen und Begründen. Sie sind durch Emotionen und Einstellungen, wie Leidenschaft, Freundlichkeit, Reue, Mitleid, Liebe, Hingabe usw. geprägt. In den Worten des Evangelisten Lukas: "Ein Samariter […] kam dahin, und als er ihn sah, jammerte es ihn" (Lk 10,33). Anders gesagt: Es stellt sich nicht zuerst die Frage nach dem richtigen Handeln, sondern nach dem Guten, das das Handeln orientieren soll.

    Die Schrift hilft nicht für die moralische Urteilsbegründung. Sie hilft durch ihre narrative Struktur für "die moralische Sensibilisierung für Situationen und Lebenslagen, die praktisch Grund geben, in einer bestimmten Weise zu handeln und die Menschen entsprechend urteilen lassen." (Fischer 2011: 271) Die Bibel dient nicht dem Begründen, sondern dem Verstehen. Sie ist so selbst und ganz grundsätzlich ein Korrektiv für die Einseitigkeit heutiger Ethikentwürfe.
     

    d. Schrift als Quelle der ethischen Verbindlichkeit des Glaubens

    Ulrich H. J. Körtner fasst die Schrift als zentrale Quelle der evangelischen Ethik (Vgl. Körtner 2011). Auch für ihn gibt die Schrift zwar keine materialen ethischen Bestimmungen mehr vor. Sie ruft jedoch zum Glauben und verweist auf seinen Grund in der Gnade und Liebe Gottes. So weist die Schrift auf eine prinzipielle ethische Verbindlichkeit des Glaubens hin, die in ihren konkreten Bestimmungen immer wieder neu und zeitgemäß materiell gefüllt werden muss.

    Protestantische Ethik ist nach Körtner aufgrund der reformatorischen Tradition auf Schriftgemäßheit verpflichtet. Schriftgemäßheit kann auch nach Körtner nicht mit Biblizismus gleichgesetzt werden. Vielmehr gilt es den hermeneutischen Zirkel von Schriftgemäßheit und Wirklichkeitsgemäßheit in der theologischen Ethik zu beachten und zu befördern. Die Schrift ist zwar die zentrale jedoch nicht die einzige Quelle der evangelischen Ethik. Zwar fordert die reformatorische Tradition, dass die Schrift als maßgebliche Grundnorm der theologischen Urteilsbildung fungiert. Nach der Krise des Schriftprinzips ist aber klar, dass die Bibel nicht im buchstäblichen Sinne Norm evangelischer Ethik sein kann. "Kein Text der Bibel, mag es sich sogar um den Dekalog oder die Bergpredigt handeln, darf unmittelbar mit dem aktuellen, d.h. im Hier und Jetzt verbindlichen Willen Gottes identifiziert werden." (Körtner 2011: 293) In Anlehnung an Dietrich Bonhoeffer stemmt sich Körtner gegen einen gesetzlichen Gebrauch der Bibel. Die biblischen Texte zeugen von einer ethischen Verbindlichkeit des Glaubens, die in jeder Zeit neue konkrete Formen annehmen muss. "Normativ ist die Schrift also im Hinblick auf das Dass der ethischen Verbindlichkeit des Glaubens, nicht aber hinsichtlich des heutigen materiellen Wie eines Lebens aus unbedingter Verantwortung vor Gott und den Menschen." (Körtner 2011: 294)

    Die Bibel selbst weist eine Vielfalt christlicher Ethiken auf. Ethische Weisungen ergehen häufig anlassbezogen. Es zeigt sich ein Rückgriff auf vorchristliche ethische Traditionen. Sie diktiert insgesamt keine einheitliche materiale Ethik, fordert so aber gerade zur ethischen Reflexion heraus. Die Bibel gibt nach Körtner der ethischen Reflexion jedoch eine rechtfertigungstheologische Norm vor: So ist die primäre Botschaft des Neuen Testaments eine soteriologische. Sie verkündet ein Heil, das vor aller Ethik liegt und damit das ethische Geschäft von jeglichen soteriologischen Ansprüchen befreit: Nicht das gute Werk, sondern der Glaube führt zum Heil. Es ist also streng zwischen Ethik und Heil zu unterscheiden und die Differenz zwischen der Heilsdimension und Ethikdimension kann im Umgang mit der Bibel immer wieder neu eingeübt werden.

    a. Möglichkeiten der Operationalisierung

    Die Frage nach der Bibel in evangelischer Ethik ist so grundlegend, dass sie sich quer durch die verschiedenen ethischen Problemfelder hindurch stellt. In nahezu allen Themengebieten der Ethik lässt sich somit erproben, welche Stellung die Bibel und biblisch geprägte Perspektiven in der ethischen Reflexion einnehmen können. Dabei kann sich der Bedeutung der Bibel für die verschiedenen Problemfeldern auf mindestens drei Weisen angenähert werden: Erstens kann analysiert werden, wie die Bibel in bestehenden ethischen Diskursen auftritt. Wer zieht in ethischen Debatten die Bibel für seine Position heran? Wie wichtig ist der Bibelbezug für eine Position? Zweitens kann sich der innerbiblischen Vielfalt ethischer Aussagen durch die Gegenüberstellung markanter Passagen angenähert werden. Welche Spannungen ergeben verschiedene biblische Aussagen hinsichtlich ethischer Problemfelder? Drittens kann die je eigene Haltung gegenüber biblischen Aussagen anhand unterschiedlicher Textstellen erprobt werden. Welche Stellen unterstützen die eigenen moralisch-ethische Überzeugungen? Welche biblischen Geschichten prägen die eigenen Wahrnehmungsmuster? Welche Stellen stehen in Spannung zu heute verbreiteten moralischen Grundsätzen, Überzeugungen und Intuitionen?
     

    b. Material

    Zu dem wichtigsten Material zur Bibel in der Ethik gehören freilich die biblischen Schriften selbst. Anstatt hier jedoch die biblisch-ethischen Schwergewichte evangelischer Tradition, wie die Zehn Gebote (Ex 20, Dtn 5), die Bergpredigt (Mt 5-7) oder auch berühmte Gleichniserzählungen wie die vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), in den Vordergrund zu stellen, kann exemplarisch ein Konfliktfeld adressiert werden:

    Die Beurteilung von Homosexualität gilt in vielen evangelikalen und konservativen Kreisen oftmals als Seismograf für die Bibeltreue. In der Tat kennt die Bibel Stellen, die Homosexualität deutlich verwerfen. Es lassen sich Spitzensätze wie Lev 18,22 („Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.“ (LUT 2017)), Lev 20,13 („Wenn jemand bei einem Manne schläft wie bei einer Frau, so haben sie beide getan, was ein Gräuel ist, und sollen des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie.“ (LUT 2017)) im Alten Testament finden oder es kann auf die Verwerfungen von Homosexuellen bei Paulus im Neuen Testament (1Kor 6,9; Röm 1,26f.) hingewiesen werden.

    Diese Stellen müssen zunächst in ihrer historischen Situation kontextualisiert werden, welche sich von unseren heutigen Begebenheiten radikal unterscheiden. Sodann können die Stellen mit anderen Bibelstellen konfrontiert werden, wie z. B. der Aufhebung gesellschaftlicher Statusgruppen bei Paulus selbst („Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28 LUT 2017)) Es lässt sich aufweisen, wie selektiv in diesen vermeintlich bibeltreuen Kreisen mit anderen Vorschriften der biblischen Schriften verfahren wird, indem z. B. Anweisungen für das Rasieren, das Speisen und die Haltung von Sklaven nicht die gleiche Geltung zugestanden wird. Es lässt sich schließlich fragen, ob die Orientierung an den biblischen Einzelaussagen zur Homosexualität, das eigentliche Motiv einer Ablehnung der Homosexualität ist oder ob andere für eine solche Verwerfung leitend sind, wie z. B. eine bestimmte Konstruktion von Natürlichkeit oder eine grundsätzlich antimodernistische Haltung (vgl. zum Abschnitt Dabrock 2012).
     

    c. Fragen und Thesen zur Diskussion

    • Wie schriftgemäß muss eine evangelische Ethik sein?
    • "Auch aus heutiger Sicht ist es nicht unproblematisch, den Dekalog als Summe des alttestamentlichen Ethos zu betrachten. Seine Adressaten waren keineswegs alle Menschen, sondern erwachsene israelitische Männer, die Grund, Vieh und Sklaven besaßen und für ihre Frauen, Kinder und Eltern, mit denen sie in einem Haushalt lebten, verantwortlich waren. Der Dekalog vertritt eine exklusive Monolatrie mit aggressiver Abgrenzung von anderen Religionen und Kulturen sowie eine patriarchale Sozialstruktur. Er schützt besonders den Anspruch der Wohlhabenden auf ihr Eigentum, zu dem auch Sklaven und Sklavinnen gehören." (Krüger 2011: 249) Welche Chancen und Herausforderungen bieten die Zehn Gebote für heutige ethische Reflexion?
    • Was muss ich glauben, um aus der Bibel ethische Orientierung beziehen zu können?

    Basisliteratur

    Anselm, R.: Art. Bibel, Glaube, in: Anselm, R., Körtner, U. H. J. (Hg.): Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015, 17–23.
    Fischer, J.: Die Bedeutung der Bibel für die theologische Ethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 55 (2011), 262–273.
    Körtner, U. H. J.: Das Neue Testament als Quelle theologischer Ethik. Anmerkungen zum Verhältnis von theologischer Ethik und neutestamentlicher Wissenschaft aus systematisch-theologischer Sicht, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 55 (2011), 287–300.
    Lauster, J.: Schriftauslegung als Erfahrungserhellung, in: Nüssel, F. (Hg.): Schriftauslegung. Tübingen 2014, 179–206.


    Weiterführende Literatur

    Dabrock, P.: Zum Gebrauch der Bibel in der Theologischen Ethik. Erörterungen angesichts der aktuellen Debatte um Homosexualität, Ökumenische Rundschau 61 (2012), 273–286.
    Goppelt, L.: Prinzipien neutestamentlicher und systematischer Sozialethik heute (1973), in: Ulrich, H. G. (Hg.): Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben (=ThB 83), München 1990, 42–65.
    Horn, F. W. (Hg.): Jenseits von Indikativ und Imperativ, Tübingen 2009.
    Horn, F. W.: Ethik des Neuen Testaments 1993–2009, in: Theologische Rundschau 76 (2011), 1–36, 180–221.
    Konradt, M., Schläpfer, E. (Hg.): Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament, Tübingen 2014.
    Konradt, M.: Neutestamentliche Wissenschaft und Theologische Ethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 55 (2010), 274–286.
    Krüger, T.: "Wer weiß denn, was gut ist für den Menschen?" Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Ethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 55 (2011), 248–261.
    Leonhardt, R.: Moralische Urteilsbildung in der evangelischen Ethik. Hermeneutische und anthropologische Überlegungen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 54 (2010), 181–193.
    Otto, E.: Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart u.a. 1994.
    Reuter, H.-R.: Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Huber, W., Meireis, T., Reuter, H.-R. (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 9–123.

    Veröffentlicht am 20.11.2020 (Version 1.0).

    Zitierweise:
    Berkefeld, M.: Art. "Bibel in der Ethik" (Version 1.0 vom 20.11.2020), in: Ethik-Lexikon, verfügbar unter: https://ethik-lexikon.de/lexikon/bibel-der-ethik.